Sanctum: Die männliche Seite

Sanctum - New York City Bluster (live at cbgb's)

Nach dem Album Lupus in Fabula und der Vinyl-EP The Answer to His Riddle präsentierte das schwedische Projekt Sanctum im Jahr 2000 mit New York City Bluster sein drittes Werk. Der seltsame Titel rührt übrigens daher, dass es sich um die Dokumentation eines Konzertes vom 12. 7. 1999 in New York handelt. Allerdings ist New York City Bluster kein Live-Mitschnitt der herkömmlichen Art...

Zum einen fällt kaum auf, dass die CD keine Studioproduktion ist (nur gelegentlich merkt man einen etwas zu starken Hall), was wohl entweder bedeuten muss, dass kein Publikum da war (was nicht sehr wahrscheinlich ist), oder dass es sich bei New York City Bluster um die "reine" Tonspur handelt, die an dem besagten Abend durch die Boxen gejagt wurde.

Was diese Scheibe weiterhin von anderen Sanctum-CDs abhebt, ist das Fehlen weiblichen Gesangs. Lena war wohl auf der Tour durch die Vereinigten Staaten verhindert (ebenso die Cellistin Marika), weshalb die "männliche Hälfte" der Band sich wohl entschieden hat, auf der Tour ein eher breit aufgefächertes Spektrum an Musik darzubieten, bestehend aus allerhand Material von diversen anderen Projekten des "Crescens"-Kollektivs, Instrumentalversionen sowie ein paar Sanctum-Stücken mit rein männlichem Gesang. Dies ist also gar keine Sanctum-CD im engsten Sinne... Was für einige ein Grund sein könnte, sich überhaupt nicht für dieses Album zu interessieren - schließlich spielt der wiebliche Gesang auf dem Debutalbum sowie bei sonstigen Konzerten eine tragende Rolle -, macht sie für den einen oder anderen vielleicht doch um so interessanter.

Doch nun zum eigentlichen "Inhalt" des Albums: New York City Bluster beginnt mit düsterem Grollen, vermischt der Sorte rhythmisch angehauchtem Krach, der Industrial-Puristen die Ohren übergehen lässt. Nach wenigen Minuten erheben sich dann aus den postapokalyptischen Klangfeldern die für Sanctum ebenso typischen melodischen Synthesizer; es baut sich langsam eine melancholische Synthese aus industrieller Zerstörung und filigraner Schönheit auf; letztere überwiegt schließlich - der asymmetrisch aufgebaute Opener "Axiom" findet ein Ende... Und an seine Stelle rückt das ebenso von Melancholie beherrschte, jedoch von mechanoiderer Rhythmik geprägtere, düstere "Mindtwister" - übrigens laut Booklet ebenso wie "Axiom" ein Auszug aus Sanctums nächstem Album. In diesem von Industrial-Samples durchzogenen Stück hört man zum ersten Mal Håkans charakteristisches verzerrtes Raunen, das den Text des bislang unbekannten Liedes leider nur erahnen lässt.

Nach einem schon bekannten Sanctum-Stück, "Decay", das sich hier kaum von der Studioversion unterscheidet, folgen ein paar auf insgesamt zwölf Minuten zusammengeraffte Auszüge aus dem Erstlingswerk von Jan Carleklevs Sideproject Parca Pace (das ganze Werk ist 50 Minuten lang): Weitläufig Industrial pur, gespickt mit "Tribal"-Beats, ein paar von Håkan ins Mikro gegrölten Versen sowie einem wirklich melodiösen Teil, der wiederum stark an Sanctum erinnert, als Sahnehäubchen.

Es folgt das Stück "In Two Minds", das garantiert zu Sanctums "Greatest Hits" gehört, allerdings in der EP-Version, die insgesamt zwar immer noch relativ industriallastig, aber gleichzeitig viel melodiebetonter ist als die Albumversion. In Anbetracht des Ausbleibens von Lenas Gesangsparts könnte man vielleicht von einer Hybridversion zwischen beiden bisherigen Versionen sprechen. Jedenfalls hält Håkan sich gebrüllstechnisch im Vergleich zum Albumversion stark zurück...

Das relativ tanzbare Stück "Sly Dog" kennen vielleicht einige schon als "Sanctum Remix" des Extol-Stücks "Burial" (auf deren EP Mesmerized erschienen) - allerdings fehlen hier natürlich Stimme und Instrumente von Extol, was das Stück zu einer Art in die Länge gezogenem (und mit Industrielärm durchsetztem) Drumcomputersolo macht. Das Booklet spricht geheimnisvoll von "a step into the world of Mago", in Wirklichkeit hat die Musik hier aber mit den späteren, eher ruhigen, langsamen und melodiösen Klängen des Nebenprojektes Mago nicht viel zu tun...

Das nächste Stück, "Gift", war ursprünglich für eine Tanzvorführung gedacht - und tatsächlich verleihen einen groovenden 4/4-Takt entlanghüpfende Keyboardpassagen diesem Stück ein lockeres, eher untypisches, fast heiteres Flair. Aus "Sly Dog" recyclete Drumcomputerpassagen und weitere Samples wurden wohl im Nachhinein hinzugefügt, um das Stück für die Sanctum-Tour brauchbar zu machen. Gegen Ende von "Gift" macht sich unstrukturierter Lärm breit, der das Stück (glücklicherweise) überdauert, um ein paar Minuten lang solitär weiterzuklingen, alsdann dem Album unter dem Namen "Gifthorse" ein Ende zu bereiten und es (quasi als wiedergutmachende Abrundung) beinahe dorthin zurückzuführen, wo es begonnen hatte - im ungeschminkten Industrial.

Als besonderes Bonbon enthält das Booklet für solche, die es interessiert, das recht ausführliche Tagebuch der Sommertour '99 durch die Staaten...

Mein Fazit: Auch wenn dieses Album nicht zur Größe der bisherigen Sanctum-CDs aufsteigt und aus verständlichen Gründen die musikalische Breite des Projektes Sanctum auch nicht sehr ausgewogen repräsentiert, ist es dennoch eine sinnvolle Ergänzung für alle, die entweder nicht warten können, neues Material von Sanctum zu hören, oder sich (wie ich) für die diversen Nebenprojekte interessieren.

Patrick Maiwald, 03. 05. 2004


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=> Crescens Collective (Homepage)

=> Sanctum - Lupus in Fabula (Rezension)
=> Sanctum - Let's Eat (Rezension)
=> The November Commandment - A Motorised Mind (Rezension)
=> Parca Pace (s/t) (Rezension)
=> Parca Pace - Raumspannung (Rezension)

=> Interview mit Jan Carleklev (Januar 2004)