Sanctum-Frontmann Carleklevs erste Industrial-Sinfonie

Parca Pace (s/t) Während ich nach langer Zeit wieder einmal die zwölf mal zwölf Zentimeter große Papierhülle in den Händen halte, auf deren Frontseite ein Aufkleber mit dem Schriftzug "PARCA PACE" und der Abbildung zweier rauchender Fabrikschornsteine prangt, mache ich mir Gedanken über das Wesen der Industrie: Hier ist eine CD, die offenbar mit viel Fleiß (lat. industria) gemacht wurde und zudem genau davon (von der Industrie nämlich) handelt, im kommerziellen Musikgeschäft (auch eine Industrie) jedoch - wie die einfallsreiche Musik so oft - untergegangen ist. "Erschienen" (wenn man das so nennen darf) ist das exzentrische Werk in Europa lediglich auf Structure, einer Art kleiner "Ausbuchtung" des Labels Endtime Productions. Die CD scheint streng limitiert zu sein, im normalen Handel gesehen habe ich sie jedenfalls noch nie. Kaufen musste ich sie von den Künstlern selber.

Schon beim Öffnen der weißen Hülle wird einem klar, dass man es hier mit etwas ganz Besonderem zu tun hat: Die "offene" Seite ist mit dem eingangs erwähnten bedruckten Aufkleber versiegelt. Das Innere der Hülle zeigt sich ähnlich minimalistisch, wie das Äußere vermuten lässt: Die CD und zwei quadratische Bilder von Industriearbeitern. Keine Trackangaben, lediglich ein paar Credits auf der CD selber. (Immerhin schon mehr, als sich z.B. aus der Aufmachung der Azure-Skies-CD schließen lässt.) Die CD entstand übrigens ursprünglich als Soundtrack zu einer Ausstellung über die Schließung einer Fabrik und die daraus resultierenden Folgen. Doch das weiß man nur durch Interviews mit der Band - bei der CD-Produktion hat man sich wohl an die Regel "Musik sagt mehr als tausend Worte" gehalten.

Gut. Legen wir die CD also ein. Doch was ist das: Ein einziger Track mit exakt 50 Minuten Spielzeit. Da haben wir uns etwas vorgenommen...

Der einzige namenlose Track dieser namenlosen CD eines keineswegs namenlosen Künstlers (Parca Pace ist quasi Sanctum-Mastermind Jan Carleklevs Instrumental-Soloprojekt) hat es allerdings in sich. Das Stück beginnt mit einem fast hypnotisch wirkenden Beat gemäßigter Lautstärke, der vor dem Hintergrund sich ständig ändernder Industriewelten unberührt erst einmal vor sich hin plätschert. Nach einigen Minuten hört er auf, und der Industrielärm drängt sich in den Vordergrund. Dann setzen die Keyboards ein: Einige Minuten Melancholie der fast symphonischen Art folgen. Dann urplötzlich wieder der Schnitt zum Rhythmus, der sich bald zu einem regelrecht groovenden "Tribal"-Beat aufbaut, an seinem Zenit begleitet von den Schreien eines Håkan Paulsson, den man auch als Sänger von Sanctum oder Mago kennt. An dieser einen Stelle ist es also keine reine Instrumentalmusik mehr, auch wenn man den Text nicht versteht. Doch das nur nebenbei. Dann wieder: Unkoordinierter industrieller Krach, begleitet von absolut rhythmischem Geplänkel, das irgend etwas Beruhigendes an sich hat. Man hangelt sich am einfachen Rhythmus entlang, durch ihn wird der amusikalische Lärm ertragbar, ja fast sinnerfüllt. Nach insgesamt 20 Minuten folgt dann allmählich die Rückkehr aus dem Minimalismus: Der groovende Industrial-Rhythmus begrüßt uns erneut und fungiert diesmal als Überleitung zu einem extrem melodischen Teil, bei dem für kurze Zeit die triumphale Melodie das Geschehen beherrscht. Dann wieder: minimalistische Klangexperimente, die einem das Zeitgefühl rauben und ewig anzudauern scheinen, obwohl, oder vielleicht gerade weil, sie ständig im Wandel sind. Dann, irgendwann nach einer halben Stunde Spielzeit, hören sogar die monotonen leisen Rhythmen auf... es bleibt fast nichts zurück, bis auf eine Dark-Ambient-Klanglandschaft, die vor allem eines ausdrückt: Menschenleere.

In diese Leere hinein kommt die Wiederholung des melodiösen Teils mit hohem Wiedererkennungswert trotz des übergangslosen Wechsels wie gerufen. Wieder einmal lässt sie nichts als ihren stetig vor sich hin mürbenden Rhythmus zurück - und auf diesem baut sich, als wenn es nicht schon genug wäre, alsdann eine weitere Harmoniefolge auf, die die erste noch weit an Schönheit zu übertreffen scheint, nicht zuletzt auch wegen der weiblichen Stimmen-Effekte (oder ist der Gesang etwa doch echt?)... Dann ein fliegender Wechsel zurück zur ersten Harmonie. Etwa an der 40-Minuten-Markierung findet aber auch diese wieder ein Ende: Die Lichter sind aus, und wir stehen wieder in der dunklen, kalten, menschenverlassenen Fabrik, deren Geister aber noch zu leben und unterirdisch weiterzuarbeiten scheinen. Ein stetiges Pulsieren, das uns in Trance versetzt... dann die Rückkehr zum Anfang: Der vor sich hin groovende Rhythmus gemäßigter Lautstärke. Er klingt aus in die Unendlichkeit...

Parca Pace ist wirklich eine sehr eigenartige CD, die die Herzen von Industrial-Puristen (womit nicht unbedingt tanzbarer Industrial gemeint ist) und Klangexperimentbegeisterten höher schlagen lassen dürfte... die Elemente der Musik, die man von Carleklevs Hauptprojekt Sanctum gewohnt ist, fehlen natürlich nicht; vor allem an den oasisch wirkenden harmonischen Stellen fühlt man sich sehr daran erinnert. Trotzdem hat Parca Pace gerade durch die langen Intervalle dazwischen gewissermaßen einen ganz eigenen "Fluss": Keine CD, die man jeden Tag hört. Und ganz gewiss keine Musik, die von irgendeiner Industrie gefördert wird. Aber vielleicht ist das gut so - dadurch wird das Flair des Besonderen noch bestärkt. Vielleicht aber auch nicht, da auch die beste und innovativste CD nichts bringt, wenn man sie fast nirgends bekommt.
Soeben habe ich gesehen, dass man die CD noch immer über die Crescens-Collective-Homepage bestellen kann...

Patrick Maiwald, 30. 09. 2005


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=> Crescens Collective (Homepage)

=> Parca Pace - Raumspannung (Rezension)
=> The November Commandment - A Motorised Mind (Rezension)
=> Sanctum - Lupus in Fabula (Rezension)
=> Sanctum - New York City Bluster (Rezension)
=> Sanctum - Let's Eat (Rezension)

=> Interview mit Jan Carleklev (Januar 2004)