Ungeahnte Tiefen

Virgin Black - Elegant... and Dying

Das erste, was auffällt, wenn man die langerwartete zweite CD von Virgin Black in die Hand bekommt, ist das gnadenlos weiße Cover. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die weiße Wüste durchaus Konturen hat, Konturen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Genaues Hinsehen freilich zeigt eine ungeahnte Tiefe und regt dazu an, wieder und wieder hinzusehen. Die Tiefen hinter der Oberfläche haben Virgin Black hervorragend in den Griff bekommen. Musikalisch geht es genauso weiter.

Auf den ersten Blick erschlägt die pure Länge der neun Stücke, die von sechs bis knapp zwanzig Minuten dauern, und weiß Gott kein radiotaugliches Format mehr haben. Hört man dann die Stücke, wird man beim ersten Hören von brachialer Wucht erschlagen, um dann beim zweiten, dritten, zehnten oder wievielten Hören immer neue Juwelen unter der Oberfläche zu entdecken. Die Art, wie Samantha ihre Gitarrensoli spielt, etwa.

Die Keyboards von Rowan, die zwischen perlendem Piano und wuchtigem wall of sound nahezu wahnwitzig hin und herpendeln. Die ungeheuer kompetente Rhythmusgruppe... Der Gesang, der mühelos alle Schattierungen zwischen Zärtlichkeit, Wut und Pathos abdeckt. Das Ende von "Velvet Tongue", das mit einem stehenden Ton und einer genialen Gitarrenpassage fast schon schmerzhaft schön in das nächste Stück überleitet - der beste Übergang von zwei Stücken, den ich seit langem gehört habe.

Wie gesagt: Man geht auf Entdeckungsreise und entdeckt immer wieder Neues, immer wieder überraschende Wendungen, immer neue filigrane Arbeit, die jeden Song zu einem Kunstwerk machen. Gerade diese scheinbaren Kleinigkeiten zeugen gegenüber dem hervorragenden Vorgänger von einer Weiterentwicklung, die ich angesichts der Qualität des Vorgängers kaum noch erhofft hatte. Assoziationen werden bei mir wach, Gedanken an eine Zeit, in der noch nicht das alles bestimmende Formatradio und hochgecastete Popstarclones die Tagesordnung bestimmten, sondern der Versuch, echte Kunst zu produzieren. Wenn es stimmt, dass ein Kunstwerk dadurch definiert ist, dass es in der Summe seiner Interpretationen nie ganz aufgeht, dann haben Virgin Black ein Stück echte Kunst produziert. Eine CD, die den gesamten Ausstoß dieses Jahres überragt, ist es auf jeden Fall geworden.

Heiko Ehrhardt, 17. 08. 2003


Eure Meinungen zu diesem Artikel:
hier klicken


Wir schreiben das Jahr 2003, es ist ein heißer Sommer (zumindest in der nördlichen Hemisphäre), und die Australier Virgin Black bringen ihr zweites Album heraus.

Elegant... and Dying knüpft ziemlich nahtlos an den seinerseits ebenfalls genialen Vorgänger Sombre Romantic an, und - ich wage kaum, es zu schreiben - übertrifft diesen. Dem größten Manko des Debüts - seiner mit knappen 45 Minuten recht bescheidenen Länge - tut der elegante Nachfolger mit fast 75 Minuten (!) mehr als genüge, und das bei nur neun Tracks. Wer sich aufgrund dieser Länge jetzt Sorgen um die Qualität macht, dem sei gesagt, dass das hohe Niveau des Vorgängers trotz allem aufrechterhalten wird. In einigen Punkten ist Elegant... and Dying dem Debütalbum recht ähnlich - es gibt wieder ein episch-opulentes Intro ohne abgedruckten Text ("Adorned in Ashes"), und der Rest der Musik besteht weiterhin größtenteils aus düster-morbiden Gothic-Klängen, aggressiven Gitarrenriffs, so spärlich wie passend eingesetzten Chören, emotional bedrückenden Passagen, in denen klassische Instrumente die tragende Rolle spielen, und über allem Rowan Londons klarer, operesker Gesangsstimme (die wahrhaft immer besser zu werden scheint) mit gelegentlichen Flüstertönen und Black-Metal-Kreischern... doch das ist wie gesagt nur der erste oberflächliche Eindruck.

Denn je weiter man sich in das Werk vertieft, desto mehr sind es seine Eigenarten, die man zu schätzen lernt. Und vertiefen sollte man sich auf jeden Fall. Die meisten Riffs und Melodien, die einem geboten werden, sind nämlich alles Andere als eingängig, doch scheinen sie sich bei jedem Hörvorgang langsam tiefer und tiefer in die Gehörgänge hineinzubohren. Man braucht also Zeit für diese CD.

Die Musik erinnert mich mehr als jede andere Virgin-Black-Veröffentlichung wieder unheimlich stark ans Demo, sprich: Sie hat insgesamt einen "doomigeren" Klang als z.B. Sombre Romantic. Dabei ist Virgin Black gar keine Metalband. (Wäre sie eine, dann würde es beispielsweise nicht zehn Minuten dauern, bis man bei "The Everlasting" zum ersten Mal eine Gitarre hört.) Sicher, es gibt Stellen, an denen der Hörer versucht wird, zu glauben, dass er gerade Metal hört (z.B. der Anfang von "Renaissance"), aber diese halten nicht lange an. Kategorisierungsversuche der Musik sind wohl sowieso von vorneherein zum Scheitern verurteilt - deshalb höre ich jetzt auch damit auf. Fest steht, dass Virgin Black unglaublich emotionsgeladene, herausfordernde und ernst gemeinte Musik machen, die einen vielleicht beim ersten Hören anspricht (oder auch nicht), die man jedoch mehr als einmal gehört haben muss, um sie wirklich zu verstehen - und das gilt für Elegant... zweifelsohne mehr als für jede andere Scheibe.

Doch um nochmals auf die oben genannten "Eigenheiten" zurückzukommen: Virgin Black sind nach wie vor mit so viel Liebe zum Detail ans Werk gegangen, dass es mir ausgeschlossen scheint, dass beim Hören etwas mit Langeweile vergleichbares aufkommt. Sei es das reibungslose Zusammenspiel von Keyboards und "echten" klassischen Instrumenten ("The Everlasting"), Rowans kraftvoll-herzzerreißende Stimme ("Velvet Tongue"), die Schönheit der emotionsgeladenen Gitarrensoli (die nun wirklich gar nichts mehr mit nervigen powermetalligen Soli à la C.-J- Grimmark mehr gemeinsam haben) oder die Perfektion des Zusammenspiels der beiden E-Gitarren ("And the Kiss of God’s Mouth - Part 2"), man ist auch nach Wochen und Monaten des ständigen Hörens noch begeistert. Die neun Stücke (die nahezu alle die 7-Minuten-Grenze überschreiten) haben alle einen sehr eigenen Charakter, wobei jedoch die über 17 Minuten lange Mini-Oper "The Everlasting" so etwas wie das Herzstück des Albums bildet (und somit in gewisser Weise an "The Stand" auf Saviour Machine II erinnert).

Textlich wird oftmals ein Festhalten bzw. eine Annäherung an Gott und gleichzeitig ein Sich-Distanzieren von vielen Dingen, die häufig (fälschlicherweise?) mit Gott in Verbindung gebracht werden, ausgedrückt ("Velvet Tongue", "Beloved"). In "The Everlasting" scheint es mir um jemanden zu gehen, der von einer mystischen Gestalt verfolgt wird, die derjenige schließlich als Herrn und Erlöser anerkennt ("Scarred but perfect and beautiful", "I cannot deny, but can I embrace?"). Wie schon auf "Sombre Romantic" werden viele wunderschöne sprachliche Bilder benutzt, was dazu beiträgt, dass die Texte prägnant und doch offen für Interpretationen bleiben.

Diese CD ist auf jeden Fall ein echtes Kunstwerk und dazu prädestiniert, für lange Zeit an der Spitze meiner ganz persönlichen Top Ten zu verweilen.

"Gnats dance through my sable cloak..."

Patrick Maiwald, 19. 08. 2003


Eure Meinungen zu diesem Artikel:
hier klicken

=> Virgin Black (Homepage)

=> Virgin Black - Sombre Romantic (Rezension)
=> Virgin Black - Requiem - mezzo forte (Rezension)
=> Virgin Black - Requiem - fortissimo (Rezension)

=> Interview mit Samantha Escarbe (Oktober 2001)