Ein Rabe lehrt die Kunst des Sterbens

George MacDonald - Lilith In diesem Spätwerk des schottischen Fantasyautors MacDonald ist nichts so, wie es scheint. Hauptfigur der außergewöhnlichen Geschichte ist Mr. Vane, ein gebildeter junger Mann, über den wir nicht viel mehr erfahren, als dass er ein großes Anwesen erbt, inklusive einer uralten Bibliothek, in der merkwürdige Dinge passieren. Schnell offenbart sich ein mysteriöser Spiegel als Tor in eine andere Welt (Ähnlichkeiten mit den Werken von Lewis Carroll kommen nicht von ungefähr - die beiden Autoren waren eng miteinander befreundet), eine Welt, die sich wohl vor allem dadurch auszeichnet, dass menschliche Wesen dort auch ein Tier-Selbst haben. Mit einem gewissen Mr. Raven, der mal als fracktragender Bibliothekar und mal als sprechender Rabe erscheint, liefert sich Vane philosophische Debatten um Leben, Tod und Selbsterkenntnis. Bald stellt sich heraus, dass sich hinter dem Haus, in welchem Raven mit seiner wunderschönen Frau lebt, ein riesiges Mausoleum befindet, in dem Tote schlummern, um einst zu wirklichem Leben zu erwachen. Als Vane klar wird, dass es auch für ihn an der Zeit ist, "zum Leben hindurchzusterben", ergreift er die Flucht, um stattdessen im verwüsteten Zauberreich, in dem es kein Wasser mehr gibt, eine Reihe ineinander verschachtelter Abenteuer zu erleben. Dort leben Kinder, die nicht erwachsen werden wollen, Riesen, die ihre Kindheit vergessen haben, gestaltlose Schreckgespenster und eine Leopardenfrau, über die schreckliche Dinge erzählt werden. Zudem herrscht Lilith, nach der Kabbala die erste, abtrünnig gewordene Frau Adams und seither ein bösartiger, kindermordender Dämon, als kaltherzige Königin über das vertrocknete Land, das nur durch ihre Umkehr von seiner Trockenheit gerettet werden könnte. Grund genug für Vane, zusammen mit Liliths kindlich-naiver Tochter Lona eine Armee von Kindern und Tieren zu rekrutieren, um gemeinsam mit ihnen die Hauptstadt Bulika, in der die Königin sitzt, zu erstürmen... Im letzten Teil des Buches geht es um eine Art urgeschichtliches Familiendrama, denn hinter dem Totengräber-Bibliothekar Raven verbirgt sich niemand anderes als der Urvater der Menschheit selbst...

Wer gerne Bücher liest, in denen alles erklärt wird und man am Ende ohne offene Fragen zufrieden dreinblicken darf, möge von Lilith Abstand nehmen. Das Ziel dieser vor phantastischen Bildern strotzenden und daher stellenweise der Beschreibung eines Fiebertraums gleichkommenden Erzählung scheint viel eher darin zu liegen, Fragen aufzuwerfen und den Leser ins Nachdenken zu bringen. Oftmals gewinnt man den Eindruck, dass es MacDonald darum ging, möglichst viele auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun habende Motive aneinanderzureihen, die sich aber bei näherer Betrachtung doch alle auf irgendeine Weise um die zentralen Themen drehen - Transformation, Verfall und Wiederaufbau, Gericht und Vergebung, Sünde und Umkehr, Kindsein und Erwachsenwerden, Tod und Wiederauferstehung.

Hinter allem steht der Gedanke, dass man sein eigenes Selbst aufgeben muss, um zum Leben durchzudringen. Auf einer abstrakten Ebene könnte man Lilith also als christliche Allegorie lesen, allerdings gibt es natürlich kaum jemals eine 1:1-Entsprechung zwischen den vielgestaltigen Motiven der Erzählung und bestimmten Glaubensinhalten. Gewiss ist dies keine Lektüre für Kinder, und die Erwachsenen, die Lilith lesen, werden es schätzungsweise entweder lieben oder kaum etwas damit anzufangen wissen. Stilistisch mag es durchaus bessere Bücher geben; die Qualitäten dieser Geschichte liegen eher auf der Ebene der "drei Ms" - Metaphern, Motive und Moral. In Anlehnung an Saint-Exupéry könnte man über Lilith sagen: Man liest's nur mit dem Herzen gut!

Über die deutsche Übersetzung kann ich nicht viel sagen, da ich das Buch nur im Original kenne.

Patrick Maiwald, 07. 04. 2006

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