Lewis' kindgerechte Mythopoesis

C. S. Lewis - Das Wunder von Narnia (The Magician's Nephew) Für einen Teil einer Werkreihe, der zwar nicht der erste ist, dessen Handlung jedoch vor dem ersten Teil spielt, wurde vor einigen Jahren die Bezeichnung prequel geprägt. Das vor einem halben Jahrhundert erschienene Buch Das Wunder von Narnia (bzw. The Magician's Nephew) ist solch ein prequel, da es von der Gründung Narnias und dem ersten Kontakt zwischen Narnia und unserer Welt erzählt.

Von daher eignet sich Das Wunder von Narnia, ähnlich wie der absolute Klassiker Der König von Narnia, auch als Einstieg in die Romanreihe - vor allem, wenn man die Geschichte wirklich chronologisch lesen möchte (wie der Titel Chronicles of Narnia ja auch suggeriert).

Die Geschichte beginnt um 1900 in England, also etwa zwei Generationen vor der Handlung der anderen Bücher. Für die zwei Kinder Digory und Polly haben gerade die Sommerferien begonnen. Zusammen erkunden sie das Haus von Digorys merkwürdigem Onkel Andrew. Ein paar Zauberringe, die sie dort finden, öffnen ihnen die Tore zu anderen Welten. Dabei landen sie in Charn, der versteinerten Hauptstadt einer alten Welt, die sich ihrem Ende nähert, und wecken dort die wunderschöne versteinerte Königin Jadis auf. Wiederum versehentlich wird diese in unsere Welt mitgenommen, wo sie Herrschaftsansprüche stellt, die Gelegenheit zu viel Verwirrung bieten. Als die Kinder mit den Zauberringen die weiße Königin wieder in ihre Welt zurückbringen wollen, landen sie versehentlich in einer ganz anderen, diesmal sehr jungen Welt, wo sie Zeugen der Schöpfung von Narnia werden: In einer wunderschönen Passage, die an das Buch Genesis sowie ans "Ainulindalë" aus J. R. R. Tolkiens Silmarillion erinnert, singt der majestätische Löwe Aslan die neue Welt und sämtliche Bewohner in ihre Existenz. (Obwohl in unserer Welt nur zwei Generationen zwischen diesem und den nachfolgenden Teilen liegen, befinden wir uns in Narnia einige Jahrtausende vor der Zeit, in der die anderen Bücher spielen, da jede Welt "eine Zeit für sich" hat.)

Die weiße Königin, die natürlich nicht in ihre sterbende Welt zurückmöchte, ergreift die Flucht - und Aslan ahnt natürlich schon, was ihre Gegenwart im (noch) paradiesischen Narnia bedeutet - das Böse hat bereits wenige Stunden nach der Schöpfung Einzug in die Welt gehalten. Die Kinder sehen im Zusammentreffen mit Aslan eine Chance auf Heilung für Digorys todkranke Mutter, doch der göttliche Löwe hat zunächst einen anderen Auftrag: Er schickt die beiden Kinder, die für die Existenz des Bösen in der neuen Welt verantwortlich sind, zusammen mit einem geflügelten Pferd auf eine abenteuerliche Reise - sie sollen in einem Garten im Gebirge einen goldenen Apfel pflücken, aus dem ein Lebensbaum in Narnia hervorgehen soll, um die Bewohner vor den Gefahren durch die weiße Königin zu schützen...

Insgesamt ist Das Wunder von Narnia etwas komplexer geschrieben als z. B. Der König von Narnia, da es mehr Querverbindungen zwischen den Handlungen in den verschiedenen Welten gibt. Untypisch für die Narnia-Reihe ist die völlige Abwesenheit von Rittern, Monstern und Kampfszenen - hier haben wir es sozusagen mit dem mythologisch-paradiesischen Urzustand der phantastischen Anderswelt zu tun, und die Spannung entfaltet sich viel mehr auf der emotionalen Ebene (von daher halte ich eine Verfilmung dieses Teils für eher unwahrscheinlich). Darüber hinaus gibt das Buch Aufschluss über ungeklärte Rätsel der handlungschronologisch späteren Teile, z.B. über die Herkunft der weißen Hexe, der Straßenlaterne und der menschlichen Königreiche in Narnia, aber auch die Existenz des magischen Kleiderschranks in Professor Kirkes Haus, hinter dem sich niemand anders als Digory verbirgt, wird erklärt.

Mein Fazit: In der Vorgeschichte zum eigentlich ersten Teil - "Teil null" - der Narnia-Reihe beweist Lewis einmal mehr sein Können als Autor von Kinderbüchern, deren Lektüre sich nicht nur für Kinder lohnen. Sein Stil ist noch reifer geworden - er erzählt eine spannende, emotional ansprechende und humorvolle Geschichte, die mit christlichen Wertmaßstäben wie Hoffnung, Liebe und Vergebung angereichert und in poetischer, aber klar verständlicher Sprache erzählt wird. Sehr empfehlenswert!

Patrick Maiwald, 22. 10. 2005

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=> Narnia.com - die offizielle Seite zu den Verfilmungen und Büchern
=> Into the Wardrobe - a C. S. Lewis web site

=> C. S. Lewis - Der König von Narnia (The Lion, the Witch and the Wardrobe) (Rezension)