Gefallen, gefunden!

Evanescence - FallenIrgendwie ist es immer dasselbe: Eine christliche Band wird nach Jahren des Eingekesseltseins in der christlichen Szene und mehreren auf unbedeutenden Labels veröffentlichten Alben plötzlich von einem weltlichen Produzenten "entdeckt" und als Newcomer propagiert - woraufhin sich vieles schlagartig ändert. Die Produktion wird besser, die Musik wird meist radiotauglicher und belangloser, die vormals oft schamlos direkten Texte verlieren weitgehend den Anspruch, überhaupt als "christlich inspiriert" zu gelten, und die älteren, unbedeutenden Alben werden für die neuen Fans plötzlich zu begehrten Sammlerstücken (zuletzt gesehen bei P.O.D., aber z.B. auch bei Bands wie Sixpence None the Richer, Jars of Clay, Chevelle und dc Talk der Fall).

Mit Einschränkungen lassen sich auch Evanescence diesem Klischee des "Durchbruchs in die Weltlichkeit" zuordnen, obwohl ich gestehen muss, dass mir ihre früheren Werke nicht bekannt sind. Ich habe sie bisher noch nicht einmal irgendwo gesehen. Wie auch immer: In amerikanischen Insiderkreisen galten Evanescence, bevor sie zu den Chartstürmern wurden, als die wir sie kennen, jedenfalls als christliche Gothic-Band.

Vom Gothic ist (leider) nicht sehr viel übriggeblieben. Auf Fallen hören wir abwechselnd melodischen Nu Metal/Rock à la "Bring Me to Life" und emotionale Klavierballaden à la "My Immortal". Allerdings hören wir auch nichts anderes auf dem Album. Sehr selten werden mal beide Stilrichtungen gekreuzt, aber fast jeder der 12 Tracks auf "Fallen" ist entweder eine Klavierballade oder sozusagen eine Fortsetzung von "Bring Me to Life". Gleich lang und gleich gestrickt sind sie jedenfalls alle. Das bedeutet zwar, dass praktischerweise jedes einzelne Stück als Single auskoppelbar wäre, sorgt aber vor allem auch für Langeweile beim Hören. Daran ändern auch gelegentliche Gitarrensoli und Choreinlagen nichts. Dabei gefällt mir die Musik als solche eigentlich ziemlich gut. Zumindest um einiges besser als das, was sonst so im Radio und auf den Musiksendern im Fernsehen gespielt wird. Das, was Evanescence auf jeden Fall den ultimativen Wiedererkennungswert verleiht, ist Frontfrau Amy Lees hervorragende Stimme, die mich stark an Lena Robèrt von Sanctum erinnert (heißt das, dass Sanctum bald auch auf MTV gespielt wird?).

Ist Evanescence nun eine christlich inspirierte Band? In diversen Interviews heißt es, dass sie zumindest nicht darauf aus sind, eine bestimmte Ideologie zu verkörpern oder eine "Botschaft" zu verbreiten. Die meisten Stücke handeln ganz grob gesagt von zwischenmenschlichen Beziehungen. Andererseits verweist beispielsweise das Soul Embraced-Cover "Tourniquet" nicht nur auf die musikalischen Wurzeln (die Band besteht u.a. aus früheren Mitgliedern von Soul Embraced), sondern auch auf die christliche Vergangenheit der Band: "Am I too lost to be saved? / My God, my tourniquet, / Return to me salvation". (Interessant am Rande: Woher hat wohl eine amerikanische christliche Band, die harte Musik spielt, die Idee, Gott mittels einer Metapher mit einem Druckverband gleichzusetzen? - Gibt es da nicht noch eine Band, die so ähnlich heißt?) Der Text endet jedenfalls mit den Schlagworten "Will I be denied / Christ / Tourniquet / My suicide", in die man ein christliches Bekenntnis hineinlesen kann - oder auch nicht.

Unterm Strich bleibt es wohl dem Hörer überlassen, in welche mentale Schublade er Evanescence einordnen will...

Dem Liebhaber dunkler Kunst wird Fallen wohl nicht allzu viel zu bieten haben; allerdings hebt sich diese Band, allein schon wegen des Gesangs, doch irgendwie von den Britneys und Justins, die momentan die Musiksender belagern, ab. Hoffen wir, dass Evanescence wenigstens nicht ganz so schnell wieder "weg vom Fenster" sein werden. Wenn es Chartmusik sein muss, dann doch bitte diese!

Patrick Maiwald, 02. 09. 2003

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