...und wiederum hob er an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden:

Ein Gemeindeältester und ein Punk waren auf dem Weg zur Kirche.

Eigentlich wußte der Punk nicht so recht, was er dort sollte. Aber da es ein kalter, mieser, regnerischer Tag war, und da der Punk so richtig durchgefroren, kam ihm eine warme Kirche besser vor als gar nichts.

Der Älteste freilich wußte genau, was er in der Kirche wollte...

Immerhin war Gottesdienst und in diesem Gottesdienst war es normal, daß jeder das Wort ergreifen konnte. Nicht umsonst hatte man sich vor Jahren von der steifen Landeskirche abgesetzt, um größere Freiheit zu haben, und um immer neue Menschen mit salopper Lockerheit ansprechen zu können.

So kamen denn beide in die Kirche.
Der Punk lümmelte sich direkt in die letzte Bank und begann laut gähnend ein Schläfchen, während der Älteste auf einen der vorderen Plätze eilte, begierig darauf, im Gottesdienst bald das Wort zu ergreifen.

Ein Moment der Unruhe...
Ein Lied
Die Begrüßung
Der Anbetungsteil
Wieder Lieder
Eine Ansprache
Und dann der Gebetsteil...

Der Älteste stand auf.
Bei dem Gedanken, daß alle auf ihn blickten und daß jeder auf ihn wartete, wuchs er noch etwas in die Höhe. Alle Augen starrten ihn an.
Immerhin war er der wichtigste Mann der Gemeinde, der, der die Gemeinde mit seinen Spenden fast allein am Leben erhalten konnte, und auch der, der vor Jahren vom Herrn unmißverständlich gesagt bekommen hatte, daß es nun an der Zeit sei, eine eigene Gemeinde zu gründen um den Willen Gottes zu erfüllen.

Klar - diese Entscheidung hatten dann nachher alle getroffen.
Und ebenso klar war, daß er nachher demütig in die zweite Reihe zurückgetreten war, um aus dem Hintergrund umso effektiver leiten zu können. Trotzdem: Kein Gottesdienst hätte ohne ein Wort, ein Zeugnis, ein Gebet von ihm geendet, und keine Versammlung hätte nicht zumindest nach seiner Meinung gefragt.

Schwer vor Wichtigkeit schritt er ans Mikrofon um sein Gebet zu beginnen:
"Gott", so wollte er beten, "Gott, ich danke dir dafür, daß ich dich habe. Ich danke dir dafür, daß ich nicht oberflächlich bin, daß mich Geld und Gut nicht interessieren, daß ich anständig mein Leben lebe. Natürlich gebe ich den Zehnten und noch viel mehr.
Natürlich halte ich mich an die Zehn Gebote.
Natürlich habe ich meine Frau noch nie betrogen - nicht einmal in Gedanken..
Immer war ich für Dich da und habe nach Dir gefragt.
Gott: Ich danke Dir, ich lobe Dich, ich bete Dich an."

Dies wollte er sagen und es wäre ein Gebet gewesen wie so viele in den vergangenen Jahren.

Doch bei seinen ersten Worten stieß der Punk einen gewaltigen Rülpser aus, Marke "Schädelbräu ein Kasten". So laut und herzhaft war der Rülpser, daß man ihn bis zur ersten Reihe riechen und noch viel weiter hören konnte.

"Nun" - so begann der Älteste fast ungewollt sein Gebet - "nun möchte ich aber zuallererst bekennen, daß ich froh bin, nicht so ordinär und kaputt zu sein wie dieser Punk in der letzten Reihe."

Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken.
Erschreckt von dem, was er gesagt hatte, verschlug es ihm den Atem.

Einen kurzen Augenblick zögerte er, während alle ihn ansahen.

Dann brach es aus ihm heraus:
"Ach Gott. Was weiß ich, was mit diesem Menschen ist ?
Was weiß ich, welche Wege ein Mensch gegangen ist.
Was weiß ich überhaupt noch von anderen Menschen.
Ich kreise nur noch um mich, meine Frömmigkeit, mein Ansehen in der Gemeinde und in der Öffentlichkeit. Wenn ich mich frage, was ich eigentlich glaube, dann sind das immer öfter angelernte Sätze, die ich sage, weil andere diese Sätze gut finden. Im Grunde ist es eine Fassade, die ich vor mir hertrage, die Fassade der Anständigkeit. Daß du alle Menschen liebst, gerade die, die vielleicht auf den ersten Blick nicht liebenswert sind, das sage ich zwar und ich weiß es auch. Aber ich lebe nicht danach. Wenn ich ehrlich bin, bin ich nicht besser als irgendein anderer Mensch. Denn ich habe Mühe, deine Liebe anzunehmen und für andere wahr sein zu lassen. Herr, sei mir Sünder gnädig."

Mit diesen Worten schloß er.
Verwirrt, aber froh über seine Ehrlichkeit.

Es gab dann viel Gerede.
Viel Ärger und viele Menschen verbaten sich solche Worte mit Nachdruck.
Man wollte ja Gott die Ehre geben und nicht die eigene Schwäche zum Thema machen.

Und doch sage ich euch, daß dieser eine gerechtfertigt nach Hause ging.

Allerdings nicht, ohne den Punk noch für den selben Tag zum Essen einzuladen.

Heiko Ehrhardt