Das vorliegende Bild ist - auf den ersten Blick betrachtet - eine einzige Frechheit. Es destruiert Leonardo da Vincis berühmtes Abendmahlsbild in einer Weise, dass man sich unwillkürlich fragt, ob der Künstler einen dummen Scherz begehen wollte oder ob er bei seiner Provokation einfach ein Stück daneben gelangt hat. Denn so, wie er Leonardos Abendhmahlsszene verfremdet - in schwarz-weiß und vollkomnmen ohne Menschen - wirkt es fast wie ein Tapeziertisch in einem Raum, der dringend einer bunten Tapete bedürfte. Erst auf den zweiten Blick wird dann deutlich, dass der Künstler zumindest ordentlich gearbeitet hat. Die Proportionen von Leonardos Bild blieben ebenso erhalten, wie der Aufriß von Raum und Tisch - und wer genau hinschaut, der merkt, dass sogar von den Texturen der Wände einiges erhalten blieb. Also eine bewußte, gewollte Verfemdung. Abendmahl Einmal mehr ein Kunstwerk, das damit arbeitet, dass ein neuer Blick auf etwas Altbekanntes geworfen wird. Dies ist ja überhaupt ein Zeichen für moderne Kunst, dass Sichtweisen verfremdet und Perspektiven gebrochen werden, um so einen neuen Blick auf Altbekanntes gewinnen zu können. Fraglich ist nur, was dieser neue Blick zeigt.

Zunächst einmal die grenzenlose Sterilität eines feierlich gedeckten Tisches in einem festlichen Raum ohne Menschen. Schon dies deutet auf ein Mangelphänomen hin: Kirche als bloßes Ritual, das Abendmahl als abgespulte religiöse Pflichtübung, ein Gottesdienst ohne Gemeinde: Es wirkt leblos, steril, tot. Und es ist keine Frage, dass auch der Herr der Kirche nicht in einem leeren Raum verbleibt, sondern diesen verläßt, um dort zu sein, wo die Menschen und damit das Leben sind. Die Frage trifft uns: Suchen wir eigentlich den Lebenden bei den Toten ? Bei Traditionen (und seien sie noch so liebgeworden) und fernab von der Gegenwart der Menschen ? Ein zweiter Blick zeigt dann noch mehr: Da, wo bei Leonardo wenig und schwaches Licht durch die hinteren Fenster fällt, strahlt es hier regelrecht. Und wenn man den Schattenwurf beachtet, dann sieht man, dass das Licht nicht nur von hinten, sondern auch von oben kommt. Der leere Raum: Er ist zum Licht hin aufgebrochen. Zum Licht von oben und zum Licht von draußen. Vielleicht kommt es darauf an: Die geschlossenen Räume unserer Gewohnheiten, unseres Glaubens und unserer Vorurteile verlassen - und mögen sie auch noch so festlich geschmückt sein, Sicherheit, Behaglichkeit, Gewohnheit verheißen. Denn diese Räume sind leer, steril und tot. Den lebendigen Gott werden wir dort nicht antreffen sondern dort, wo wir aus unseren festgefügten Räumen ausbrechen und die "herrliche Freiheit der Kinder Gottes" für uns immer wieder neu entdecken. Und ich bin sicher: Das Licht wird uns leiten und begleiten.

Heiko Ehrhardt