Ein Panorama der schwarz-christlichen Musikwelt

We the Living - Volume Three: Industrial, Gothic, Ambient Um einem befreundeten Krebspatienten finanziell unter die Arme zu greifen (ja ja, das amerikanische Versicherungssystem...), brachte das christliche Label Etcetera Records im Jahr 2000 drei Benefizsampler unter dem Titel We the Living heraus. Der dritte Teil, um den es hier gehen soll, deckt dabei laut Cover die Stilrichtungen Industrial, Gothic und Ambient ab.

Nun weiß man ja nie, was man zu erwarten hat, wenn auf einer amerikanischen CD schon "Industrial" draufsteht - und ganz wie zu erwarten war, hat keins der 16 Stücke auf dieser Zusammenstellung etwas mit "Industrial" im ursprünglichen, europäischen Sinne zu tun. Dennoch hat mich diese Scheibe durchaus positiv überrascht.

Insgesamt haben wir es hier mit einem über 70 Minuten langen, abwechslungsreichen Stilgemisch aus EBM, Ambient, Gothic Rock, Experimental und sogar Neoklassik zu tun, wobei die erstgenannten, "elektronischen" Stilrichtungen quantitativ überwiegen. In den Texten, soweit diese überhaupt vorhanden sind und ich sie raushören kann, kommt bei einigen Künstlern der Glaube zum Vorschein.

Natürlich darf auf einem christlichen Gothicsampler aus Amerika die Band Saviour Machine nicht fehlen: Die Kalifornier und Pioniere der christlich inspirierten dunklen Musik sind mit "Behold a Pale Horse" vertreten. Ebenso ihre Kollegen Wedding Party, deren wohl gewöhnungsbedürftigstes, ritual-beeinflusstes Stück "Alliance" hier als Opener fungiert.

Was man vielleicht nicht auf diesem Sampler erwarten wird, ist die Demoversion von "Whisper" von Evanescence, die ja bekanntlich mittlerweile zu V.I.P.s geworden sind. Auch wenn sich die Band heutzutage weder in der schwarzen noch in der christlichen Szene blicken lässt, hat sich ihre Musik scheinbar kaum weiterentwickelt - diese Version ist lediglich anders abgemischt und etwas simpler orchestriert als die Albumversion (außerdem lässt sich hier, im Gegensatz zu ihren späteren Werken, erkennen, dass Amy im "wirklichen Leben" wohl doch nicht so sauber und fehlerfrei singt...).

Ganz netten EBM gibt es von Audio Paradox (dem Projekt von Josh Pyle, der übrigens auch schon bei Eva O die Synthesizer bedient hat) und m. E. auch von Autovoice. Eine Reihe weiterer Titel sind instrumental gehalten und lassen sich grob dem Ambient (Frolic - "So True by") bzw. Dark Ambient (Caul - "Strength According to the Word"; EnGrave - "Miserere et Parce") zuordnen. (Das Stück von EnGrave erinnert mit Synthesizern, Drumcomputer und Gregorianik-Choral-Samples etwa an frühes Material von Raison d'Être...)

Experimenteller wird es bei Tara Vanflower von Lycia, die mit hypnotisierender Stimme vor erdrückender Atmosphäre und deplatziert klingenden Babyspieluhren ein Gedicht vorträgt, während Steve Scott in "Nervous Systems 2" zu melancholischen Keyboards zusammenhanglose Phrasen aus einem Biologiebuch zu lesen scheint...

Hinzu kommen die Stücke, die ich mal unter der Überschrift "General Gothic" gruppieren möchte. Neben den schon genannten Stücken von Saviour Machine und Wedding Party seien hier beispielsweise noch "Incubus" von killingtheoldman, "Cardboard Box" von GLOBALWAVESYSTEM (das mich irgendwie an den "Ghostbusters"-Titelsong erinnert) und "Still Haunting" von The Eternal Chapter genannt. Letztere machen schlichten, düsteren Gothic Rock, der sich relativ gleichmäßig dahinschleppt - stilecht, aber nicht gerade aufregend. Das Stück weckt bei mir Assoziationen mit Diary of Dreams... Exklusiv für diesen Sampler entstand die melancholisch-verträumte Alternative-Ballade "We the Living", mit der sich Jeff Elbel, der auch für diese Zusammenstellung mitverantwortlich ist, und seine Band Ping profilieren.

Den genialen Abschluss bildet ein Auszug aus der Liveaufnahme von Brian C. Janes' Requiem, das zum Gedenken an die Opfer des Oklahoma-City-Bombenanschlags komponiert wurde. In dem neoklassischen Stück wird eine einsame Sopranistin in der Klageliturgie von Keyboards und Percussions begleitet... Janes' Requiem-CD selber ist in Deutschland ja leider nicht erhältlich...

We the Living - Volume Three ist, zusammenfassend gesagt, ein preiswerter, randvoll mit größtenteils überdurchschnittlich guter "dunkelchristlicher" Musik gefüllter Sampler, den ich nicht nur wegen der schon bekannteren Beiträge, sondern vor allem auch wegen der auf ihm enthaltenen exklusiven Stücke bzw. Raritäten empfehlen würde. Man bekommt die Scheibe derzeit für etwa 8 € bei der Stephans-Buchhandlung.

Patrick Maiwald, 18. 05. 2004

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