Die Revolution einer Szene

U2 - War Es gibt CDs, denen für die Entwicklung einer Band entscheidende Bedeutung zukommt. Exile on Main Street von den Rolling Stones gehört dazu, oder auch Led Zeppelin IV. Dann gibt es CDs, denen für die Entwicklung eines gesamten Genres entscheidende Bedeutung zukommt. Hier wäre z.B. das Debut von Black Sabbath, das zugleich den Metal begründete, zu nennen. Und dann gibt es CDs, die einfach kommerziell erfolgreich sind, ohne dass dies jemand begründen kann.
In seltenen Fällen kommt alles zusammen, und diese seltenen Fälle haben dann in aller Regel das Zeug, echte Klassiker zu werden.

War von U2 ist so ein Klassiker. Eine CD, die nicht nur die Weltkarriere des Dubliner Quartetts begründete, sondern die zugleich Rockmusik mit christlichen Texten auch in Deutschland salonfähig machte. "Christliche" Musik - die hatte es immer gegeben. Auch in Deutschland. Aber Rockmusik mit christlichen Texten? Das gab es um 1980 rum eigentlich nur in den USA und auch dort vor allem in eigenen Hitparaden. In Europa, speziell in Deutschland dagegen sah es trübe aus. Das Maß aller Dinge waren Liedermacher wie Manfred Siebald oder Siegfried Fietz, dröge Langeweilerbands wie Damaris Joy oder Deliverance oder kirchentagskompatibler Sakropop der Marke Studioband Baltruweit. Nichts, was man wirklich hören wollte, und nichts, was wirklich eine Chance gehabt hätte, außerhalb des christlichen Ghettos wahrgenommen zu werden. Und powerte dann wirklich mal eine Band richtig los, dann gab es so ziemlich bei jedem Konzert, das ich besucht habe, irgendwann einen lieben Bruder, eine liebe Schwester, die den Stecker rauszogen "weil Rock doch vom Teufel ist". Wie gesagt - besonders interessant war die Szene um 1980 wirklich nicht.

Und dann erschien War. Vorher hatten U2 zwei CDs veröffentlicht: Das raue Debut Boy und den wenig berauschenden Nachfolger October. Zwar konnte man ahnen, dass die Band Potential hatte - aber dass es gleich ein derartiger Volltreffer werden würde, hatte keiner ahnen können.

Schon das Cover erregte Aufsehen: Der kleine Junge, der auf dem Cover von Boy noch sorglos ins Leben geblickt hatte, erschien nun noch einmal. Diesmal allerdings mit düsterem Blick und blutiger Lippe - vielleicht hätte es drastischere Visualisierungen des CD-Titels gegeben, aber wohl kaum eindrücklichere. Öffnete man dann das Klappcover (allein dafür lohnt sich die Anschaffung der LP, ein CD-Booklet kann dies nicht wiedergeben), gab es ein düsteres Bild der Band in einer kargen Winterlandschaft aber leider nur einen Teil der Texte. Eine Unsitte übrigens, die U2 bis zu The Unforgetable Fire pflegte. Und das war doppelt schade, denn die Texte hatten es in sich: Vom missverständlichen Politsong "Sunday Bloody Sunday" bis zur wörtlichen Übernahme des 40. Psalms in "40" (das Stück beendete jahrelang ihre Konzerte - ob die Menschen im Publikum wirklich wussten, was sie da bis zur Zugabe durchaus 15 oder 20 Minuten sangen?) gab es immer wieder christliche Aussagen in einer Deutlichkeit zu hören, die es vorher in den Charts nie gegeben hatte. Auch wenn U2 damals großen Wert darauf legten, keine "christliche" Band zu sein, sondern eine Band, die zu drei Vierteln aus Christen bestand, deren Glauben sich in ihren Texten wiederspiegelte, so war doch nicht zu überhören, dass hier Christen aus und über ihren Glauben sangen. Eingekleidet wurden diese Texte in eine Musik, die damals einfach aufregend, neu, innovativ und unverbraucht klang.

Die Band, allen voran Gitarrist The Edge und Sänger Bono, waren damals dem Rest der Welt um einiges voraus: Kompakt und komplex zugleich, poppig (vor allem in "New Years Day" - das Stück klingt heute noch überwältigend), aber mit Widerhaken (die Geigen in "Sunday Bloody Sunday" klingen immer noch wie Splitterbomben) und rockig, ohne in Metalklischees zu verfallen - kurz: Damals die beste Synthese aus Rock, Pop und Avantgarde, die vorstellbar war.

Dieses Niveau hielten U2 auf der folgenden CD The Unforgetable Fire spielend, weshalb ich auch diese CD hätte nennen können. Die dann folgende CD The Joshua Tree, musikalisch viel zu weich, textlich weinerlich und durch die penetranten Synthesizer ziemlich überproduziert, machte U2 zu der Monsterband, die sie bis heute ist.

Auch wenn man sie seitdem überhören kann, ohne etwas wirklich Wichtiges verpasst zu haben: War ist ein Meisterwerk, das in jede besser sortierte Sammlung gehört. Ohne Wenn und Aber.

Heiko Ehrhardt, 31. 10. 2005

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