Industrie und Orthodoxie

Mental Destruction - Straw Mit dem schwedischen Label Cold Meat Industry assoziiert der Kenner mindestens zwei Extreme - nämlich einerseits rohen, oftmals kompromisslos massenuntauglichen skandinavischen Industrial und andererseits (beinahe) absolute künstlerische Freiheit. ("We work for artistic freedom beyond all frontiers" heißt es z.B. im Booklet zum Sampler The Absolute Supper.) Die für die Musikindustrie generell untypischen Freiheiten, die das Label "seinen" Künstlern gewährt, macht sich oft rein formal bemerkbar - es gibt kaum eine CMI-Scheibe, die nicht schon als streng limitierte Digipak-Vinyl-Picture-Disc-Sonder-Edition (etc.) erschienen wäre - aber auch inhaltlich ist den Künstlern alles erlaubt. Dass diese Meinungsfreiheit nicht nur gute Früchte trägt, dürfte ersichtlich sein... so finden sich unter den CMI-Künstlern neben diversen unschuldig wirkenden Klangexperimentlern z.B. auch Satanisten und einige Gestalten, deren Ansichten man vorsichtig als "politisch unkorrekt" bezeichnen könnte...

Und mitten in diesem Getümmel kontroverser Weltanschauungen finden sich eben auch einige christliche Künstler, die den geistigen Freiraum, den das Label gewährt, nutzen, um ihre Sicht der Welt preiszugeben.

Mental Destruction ist das Projekt zweier Brüder (Samuel und David Durling), die ihren Stil offiziell als "Orthodox Industrial" beschreiben. Und trotz ihrer unmissverständlich christlich inspirierten Texte sind sie eine in der Szene anerkannte und einflussreiche Gruppe. Laut Frontmann Samuel Durling (übrigens der Boss von Endtime Productions) haben sie durch ihre künstlerischen Machenschaften den Terminus "Doom Industrial" ins Leben gerufen. Dabei wussten sie, als sie ihre Arbeit begannen, noch nichts von der Musik, die sich "Industrial" nannte. Sie erfanden einfach Klänge. Und diese waren genial.

Nach mehreren mehr oder weniger unausgereiften musikalischen Anläufen veröffentlichte Cold Meat Industry dann 1996 Straw, eine Scheibe, das ich persönlich zu meinen absoluten Favoriten zähle.

Klanglich ist das Album für die breite Masse eher gewöhnungsbedürftig - welche Industrial-CD ist das eigentlich nicht? - und dabei sehr anders als alles, was ich bisher gehört habe. Fünfzig Minuten lang wird der Hörer mit Geräuschen attackiert, die mit clubtauglichem "Tanz-Industrial" nichts zu tun hat, und deren Beschreibung mir alles andere als leicht fällt... Assotiationen mit Hammerschlägen, Fabrikhallengetöse, dampfenden und schmelzenden Lautsprechern sowie vitueller Lava und digitalem Feuer (falls es so etwas geben kann) kommen mir in den Sinn, undefinierbare Geräusche in einem scheinbaren Chaos, das sich mit jedem Hören mehr und mehr (aber nie völlig) in komplexen Rhythmusstrukturen auflöst; subtile Anflüge von Melodie (besonders in "This Darker Entity", "Rise" und "September Warning") intensivieren die dichte Atmosphäre, während sie dieses Werk von seinen Vorgängern abheben, deren Ziel es gewesen war, "die Musik von der Melodie zu befreien" (so S. Durling in einem Interview mit Screams of Abel).

Inhaltlich hat Straw kein festes Grundthema. Die in relativ gutem Englisch verfassten Texte befassen sich größtenteils mit persönlichen Fragen und Emotionen sowie der Natur des Menschen an sich. Der Opener "The Streams of Time" beispielsweise beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit - zwei Extremen, die in der Musik auf geniale Art und Weise festgehalten werden. Obwohl das christliche Weltbild des Verfassers stellenweise eindeutig "durchleuchtet", sind die Texte größtenteils sehr offen für Interpretationen (vor allem das surrealistisch angehauchte "September Warning"). Das Booklet der CD ist für das Verständnis der Bedeutung des Albums sehr wichtig, da es nicht nur alle Texte enthält und durch künstlerisch hochwertiges Design besticht, sondern auch über in der Musik nicht verankerte Bedeutungsebenen der Stücke Aufschluss gibt. So "besteht" etwa "Winged I Fall" (das künstlerisch sicher wertvollste Stück auf dem Album) nicht nur aus dem bloßen CD-Track; vielmehr muss man auch die besonderen Eigenschaften des abgedruckten Textes (Groß- und Kleinschreibung, etc.) und die zugehörige Zeichnung berücksichtigen, um das Stück in seiner ganzen Fülle "aufzunehmen". Völlig begreifen können wird man Straw schätzungsweise jedenfalls auch nach dem viertausendsten Hören noch nicht ganz...

Auf jeden Fall stellt das Werk für mich schon jetzt einen Meilenstein des künstlerisch wertvollen Industrials dar... auch wenn ich es erst 3954 mal gehört habe.

Patrick Maiwald, 05. 10. 2002


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