"Tut dies zu meinem Gedächtnis!"

Lisa Gerrard & Patrick Cassidy - Immortal Memory - Diese zeitlosen Worte des Herrn beim letzten Abendmahl gehen mir durch den Kopf, als ich mir die schwarz auf gold gedruckten Liedertitel auf der Rückseite der CD ansehe. Und wirklich: Die Musik klingt beim ersten Eindruck sehnsüchtig, meditativ und nachsinnend. Die vielschichtigen Arrangements des irischen Komponisten und Harfenspielers Patrick Cassidy, in die eingebettet die unvergleichliche Stimme Lisa Gerrards in oft wortlosen Wehrufen ertönt, rühren eine tiefe Stelle in meinem Innern an; sie erzählen von Dingen, die zu weit zurückliegen, als dass man sich daran erinnern könnte, und die es doch auf irgendeine nicht nachvollziehbare Weise zu entdecken gilt. Ich betrachte das Booklet, das an sich schon den Erwerb der CD wert gewesen wäre: Auf jeder Seite ein neues Kunstwerk, das Modernes und Moderndes miteinander verschmelzen lässt. Ich lösche das künstliche Licht und zünde ein paar Kerzen an: Erst jetzt kann die Reise beginnen.

Einleitendes vorweg: Lisa Gerrard hat bereits in den Achtzigern mit ihrer Stimme bei Dead Can Dance gewissermaßen ein eigenes Kapitel schwarzer Musikgeschichte mitgeschrieben. In den letzten Jahren fiel sie durch ihre außerordentlichen Leistungen auf Soundtracks zu Filmen wie Gladiator oder Whale Rider auf, aber auch ihre unbekannteren eigenen Alben The Mirror Pool und Duality (letzteres mit Pieter Bourke von Sóma), auf denen sie mehr in Richtung der orientalischen Musik vordrang, sind durchaus nicht zu verachten. Auf Immortal Memory fließen nun erstmals thematische Bezüge zu ihrem Glauben an Christus, zu dem sie schon vor einigen Jahren gefunden hat, ein. Patrick Cassidy, der auch schon als Filmmusikkomponist tätig war, sorgt auf diesem Album für die Untermalung ihres Gesangs durch wirklich gute, beinahe "orchestral" klingende Keyboards und ein wenig Percussion.

Doch nun endlich zum Werk selber: Die ganze CD ist viel ruhiger und meditativer gehalten als alle bisherigen Gerrard-Alben. Drehen sich die ersten paar Stücke, in denen Lisa auf altgälisch singt, inhaltlich noch um die Geschichte des Amergin aus der irischen Mythologie, so folgt doch schon bald darauf das Stück "Maranatha", in dem auf alt-aramäisch, in der Sprache Jesu, eben jener Satz - "Komme, Herr" ständig wiederholt wird. Traumhaft. Besonders interessant sind auch Lisas Anmerkungen zum Vaterunser ("Abwoon"), das von ihr ebenfalls auf aramäisch gesungen wird: "Wer könnte besser der pseudoreligiösen Rhetorik westlicher Staatsoberhäupter entgegengesetzt werden als Christus, der Friedefürst, mit seinen Worten der Liebe und Vergebung in seiner Muttersprache, der Sprache des altertümlichen Orients?" [eigene Übersetzung] - Wenn man die extrem ruhig gehaltene Vertonung hört, ist dem kaum noch etwas hinzuzufügen...

"Sailing to Byzantium" ist die Interpretation eines Gedichts von W. B. Yeats, aus der man diesen Wunsch, "gen Osten zu segeln", deutlich heraushört. Wieder erzählt die Musik von einem Ort jenseits der Zeit... Byzanz als altertümlicher Schneidepunkt der östlichen und der westlichen Welt ist in der Tat ein gutes Symbol für die künstlerischen Ambitionen, denen Immortal Memory nachgeht. Langsam denke auch ich, dass mit dem Aufstieg der westlichen Kultur vielleicht mehr verlorengegangen sein könnte, als gewonnen wurde...

"Elegy" und "Immortal Memory" sind Stücke, bei denen die im Vordergrund stehenden Instrumente scheinbar durch Lisas Gesang in einer Phantasiesprache begleitet werden. Bei dem nach John Miltons Genesis-Epos benannten "Paradise Lost" verhält es sich ähnlich; Zitate aus dem englischsprachigen Werk finden sich jedenfalls nur im Booklet. Die düstere Atmosphäre dieses Stückes fängt aber trotzdem das Grundthema der Vertreibung aus dem Paradies gut ein.

Die letzten beiden Stücke, "I Asked for Love" und "Psallit in Aure Dei" sind Gedichte über Gottes Liebe. Ersteres geht musikalisch wiederum in eine gerrard-typische "östlich-meditative" Richtung; Letzteres (das lateinische Gedicht stammt von Thomas von Celano) hingegen besticht durch seine "kirchenmusikhafte" Instrumentierung (inklusive perfekt "imitierter" Orgel) und die strophische Form - man merkt sogleich, dass dies das einizige Stück ist, das von Patrick Cassidy geschrieben wurde.
"Non clamor, sed amor,..." - nicht Getöse, sondern die Liebe ist ein Wohlklang in Gottes Ohren. Mit dieser Weisheit geläutert werde ich am Ende dieser ruhigen - oder vielmehr: in sich ruhenden - CD alleine mit meinem Gott zurückgelassen. Und ich genieße die Stille in der unsterblichen Erinnerung an den, der sich einst sterblich machte...

Patrick Maiwald, 11. 10. 2005

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