Vertonte Lyrik alias Soundtrack zu Alpträumen

Graphic Verses Schockig. Bizarr. Angstmachend. Anstrengend. So wird diese CD aus den Staaten wohl auf jemanden, der sie unvorbereitet in seinen Player einlegt, wirken. Fast eine Stunde lang ständig wechselnde Geräuschkulisse und Stimmengewirr - ein Klangteppich, den man stellenweise wohl als "Experimental Noise" bezeichnen könnte. Kaum erkennbare rhythmische oder melodische Strukturen... Als "Musik" im engeren Sinne ist also das, was man hier zu hören bekommt, wohl eher nicht zu bezeichnen.

Graphic Verses ist durchaus keine CD wie jede andere. Im Grunde genommen ist das Projekt auch viel mehr als nur eine CD. Alles fing mit den Gedichten an. 25 Gedichte, aus einer sehr subjektiven Perspektive geschrieben, in vier Hauptkapitel unterteilt. Dann hatte der Autor namens Matt Frantz eines Tages die Idee, die Gedichte sozusagen als Hörbuch aufzunehmen. Je nach Stimmung und Thematik veränderte er dann seine Stimme im Nachhinein, jagte seine Lesungsfetzen durch diverse Filter und Verzerrer, drehte sie um, schichtete sie mehrfach übereinander, kombinierte sie neu, überlagerte sie je nach Kontext mit geflüsterten, genuschelten oder geschrienen Versen und Satzfetzen. Und dann fügte er andere Klänge hinzu. Instrumente... Gitarren, Bass, Keyboards, Percussions... Ketten, Wasser, Glas, eine Bohrmaschine... was gerade passte, wurde ins Studio geschleppt und zur Vollendung des Klangwerkes verwendet. Zu jedem Gedicht fertigte Matt noch eine visuelle Interpretation an... erst dann konnte man das Gesamtwerk Graphic Verses als vollendet betrachten.

Der Inhalt der Gedichte (und Bilder) ist übrigens nicht unbedingt einfacher zu verdauen als die soeben beschriebenen Audio-Interpretationen. Die Rasierklingen auf dem Coverbild machen sich bildlich gesprochen in jeder Hinsicht an den Ohren des Hörers zu schaffen. Im ersten Kapitel, "Hate, Lust and Depression", geht es, wie die Überschrift schon andeutet, primär um negative Gefühle wie Verzweiflung und Selbsthass, die auch unverblümt Ausdruck finden ("shatter my skull and watch my brains splash" oder "cut off my tongue, nothing good will come from it", um mal ein paar extreme aus dem Zusammenhang gerissene Beispiele zu liefern). Interessanterweise schimmert jedoch auch schon hier - trotz aller Autoaggression - Matts Glaube stellenweise durch. In "Confliction", dem zweiten Teil, kommen noch verschiedene zwischenmenschliche Probleme hinzu. Das dritte Kapitel, "Us", beschäftigt sich speziell mit einer in die Brüche gegangenen Beziehung, die in einem Gefühlschaos ihr Ende fand, und bei der von Lie be nicht mehr die Rede sein kann. Erst im letzten Kapitel "Flood" wird das Verlangen des Sprechers nach Veränderung bzw. Erneuerung ausgedrückt, der Fokus langsam auf unsichtbare Dinge umgelenkt. Der letzte Teil der Auseinandersetzung und Abrechnung mit so ziemlich allem, was an Grauslichkeiten sich in den tiefen Abgründen einer menschlichen Seele befinden kann, endet schließlich mit dem Wegfall der (sonst allgegenwärtigen) Geräusche - begleitet von der hoffnungsvollen Schlussbemerkung: "A fiery lake awaits all that you hate".

Das Booklet schlägt vor, die CD in einem völlig abgedunkelten Raum bei höchstmöglicher Lautstärke über Kopfhörer am Stück zu hören - nur so könnten nämlich die Gehirnströme zu genüge manipuliert werden. Ich hingegen würde der Vollständigkeit und des Verständnisses halber vorschlagen, zunächst einmal beim Anhören der CD das sogenannte Graphic Verses Virtual Book of Artwork and Lyrics (Link: hier klicken) zu betrachten - denn das magere Booklet, das zur CD geliefert wird, enthält leider weder die 25 hervorragend gelungenen Bilder noch die Gedichte in gut lesbarer Form.

Wenn man sich erst einmal näher damit beschäftigt, wird man merken, dass sich hinter diesem Album - vor allem, wenn man die Ebene der Bilder und der Gedichte hinzunimmt - nicht nur Krach, sondern ein persönliches und emotional mitreißendes Werk eines genialen Künstlers verbirgt. Und Freunde von Noise und extremer experimenteller Klänge werden sicher auch ihre Freude an dieser CD haben können, ohne sich weiter hineinzuvertiefen.

Da die CD übrigens nur bei Matts hauseigenem Label Independent Opposition erschienen ist, ist in Deutschland sehr schwer an sie ranzukommen; trotzdem kann man sie zur Zeit in geringer Stückzahl direkt über die Innenseiten bestellen (solange der Vorrat reicht) - bei Interesse einfach eine e-Mail mit Betreff "Graphic Verses" an patryck@innenseiten.de schicken!

Patrick Maiwald, 15. 12. 2003


Eure Meinungen zu diesem Artikel:
hier klicken

=> Independent Opposition (Homepage)

=> Matt Frantz (Interview)