Deutschland im Dezember 2007: In einer Münchener U-Bahn-Haltestelle prügeln ein Grieche und ein Türke, 17 und 20 Jahre alt, einen Rentner krankenhausreif, in Regensburg tötet eine Mutter ihre 2 und 3 Jahre alten Söhne, anderswo verhungern Kleinkinder und in Lübeck wird eine Frau auf offener Straße von ihrem Ehemann mit einer Axt erschlagen. Momentaufnahmen...
Schockierende Momentaufnahmen! Aber eben Momentaufnahmen, die als Momentaufnahmen nichts miteinander zu tun haben?
Oder doch?
Ich denke, dass diese Schlagzeilen, die die letzten Reste von weihnachtlicher Stimmung im Keim erstickt haben dürften, sehr wohl etwas miteinander zu tun haben.
Doch zäumen wir einmal das Pferd von hinten auf. Der Rentner in München war noch nicht mal richtig medizinisch betreut, da wusste der hessische Ministerpräsident und aktuelle Wahlkämpfer Roland Koch schon Bescheid: "In Deutschland gibt es zu viele kriminelle jugendliche Ausländer!" – und die Zeitung mit den vier großen Buchstaben stöhnte in medialer Entrückung: "Endlich traut sich ein Politiker..." Dumm nur, dass Roland Koch, wäre es ein Aufsatz und keine Schlagzeile gewesen, eine "5" für eklatante Verfehlung des Themas bekommen hätte. Denn die vermeintlichen "Ausländer" sind in Deutschland geboren worden, und sie haben Zeit ihres Lebens, von Urlauben einmal abgesehen, in Deutschland gelebt.
Oder anders gesagt: "Deutschland" hat 17 bzw. 20 Jahre Zeit gehabt, diesen Menschen "deutsche" Werte, "deutsche" Ethik, "deutsches" Verhalten beizubringen. Die Frage ist daher nicht, welcher Nationalität die Täter sind, sondern warum es offensichtlich nicht möglich ist, einer recht großen Gruppe von Menschen auch nur die Grundlagen zivilisierter Ethik beizubringen.
Und genau an diesem Punkt schließt sich der Kreis: Warum lassen Mütter ihre Kinder verhungern? Warum leben gemäß dem letzten Armutsbericht der Bundesregierung 1,5 Millionen Kinder in Deutschland in Armut? Warum gibt es Gewalt unter Jugendlichen? Warum gehen Rechtsradikale "Ausländer klatschen"? Wieso sind die Sitten derart verroht, wie wir es Tag für Tag feststellen und wieso gibt es in Teilen der deutschen Bevölkerung offenbar nicht einmal mehr sowas wie einen ethischen Grundkonses? Diese Fragen halte ich für wichtiger als die Frage danach, welcher Nationalität die Täter waren und ob nun mehr Kinder im Osten oder im Westen Deutschlands verhungern. Eine Antwort fällt freilich schwer.
Natürlich: "Wir" leiden unter einer Erosion der Werte, einer Erosion, die Tag für Tag vorgelebt wird. Wer es nicht glaubt, frage sich einmal, ob es eigentlich in Ordnung ist, wenn ein Herr Ackermann im Jahr mehr verdient als 100 Krankenschwestern oder Sozialarbeiter verdienen würden. Wer es nicht glaubt, der frage sich mal, ob ausgerechnet Roland Koch, der bis heute den Makel, mit Lügen groß geworden zu sein, nicht überzeugend abwaschen konnte, die große Lippe riskieren sollte. Wer es nicht glaubt, der frage sich mal, wie glaubwürdig eigentlich eine Politik ist, die auf der einen Seite von Arbeitnehmern ein Maximum an Flexibilität einklagt und auf der anderen Seite Krokodilstränen vergisst, wenn "die Familie" ob der geforderten Flexibilität unter die Räder kommt. Und wer es nicht glaubt, der frage sich einmal, wieso es in einem der reichsten Länder der Erde "Tafeln" und subventioniertes "Schulessen" geben muss. Oder – kurz und bündig – wie weit würde ich persönlich kommen, wenn ich nur noch 345,-- Euro Hartz IV in die Hand bekäme?
Und doch greifen diese Fragen zu kurz. Sie beschreiben eine Problemlage, die einen Skandal darstellt, der zum Himmel schreit. Aber sie erklären nicht das, was ist. Oder zumindest nicht umfassend. Denn diese Fragen erwecken den Eindruck, als ob Ethik und Einkommen unmittelbar zusammen hängen, bzw. als ob Menschen mit geringem Einkommen zwangsläufig Schläger oder Kindesmißhandler werden müssten.
Was natürlich Unsinn ist. Verlust von Ethik ist nicht auf das Einkommen bezogen und Missbrauch bzw. Misshandlung von Kindern ist kein klassenspezifisches Phänomen. Allenfalls ist es so, dass die Möglichkeiten, es zu verbergen und sich zu tarnen mit wachsendem Einkommen wachsen.
Schwerer wiegt m.E. daher der Verlust von sozialen Bindungen, von sozialer Kontrolle und von Zivilcourage. "Früher", also "damals", als die Menschen noch in festen sozialen Beziehungen und Bindungen standen, wären verhungernde Kinder aufgefallen. Es hätte Menschen gegeben, die sich gekümmert hätten und es hätte Lösungen gegeben, die jenseits von Kriminalisierung oder bürokratischen Übergriffen gestanden hätten. Und "Früher" hätte es auch Menschen gegeben, die Gewalttätern in den Arm gegriffen hätten.
Es ist erschreckend, dass empirische Sozialforschung gewalttätige Ausschreitungen recht genau beschreiben kann und dabei immer wieder zu dem Schluss kommt, dass dann, wenn es Menschen gibt, die laut "Nein" sagen, die meisten Ausschreitungen im Keim ersticken würden.
Von daher stehen "wir alle" in der Pflicht. Zu fordern wären weniger Gesetze, Verordnungen, Strafen oder Belohnungen, sondern schlicht sowas wie Zivilcourage, nicht wegsehen, eingreifen, dazwischen gehen und laut und deutlich Stellung beziehen. Es sind nicht "die Politiker" oder "die Behörden" oder gar "die Verhältnisse", die im Zweifel versagt haben... Es sind "wir alle".
Es gibt viel zu tun. Packen "wir" es an.
Heiko Ehrhardt
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