Gut... Das Jahr 2007 ist noch nicht zu Ende. Trotzdem denke ich, dass es möglich ist, dass ich das Bild, das mich am meisten berührt, am meisten deprimiert hat, fest vor Augen habe.

Nein... Ich denke nicht an hungernde Kinder oder Kriegsopfer irgendwo auf dieser Welt. Diese Bilder sind schlimm und sie sollten nicht bagatellisiert werden. Trotzdem denke ich an ein anderes Bild, das sich mir eingebrannt hat: An die Sängerin Amy Winehouse.

Wie sie auf der Bühne steht... Offensichtlich nicht in der Lage, sich selbst oder ihre Umgebung zu kontrollieren. Völlig derangiert.

Mit Haaren, die so aussehen, als ob die dumme Zeitung mit vier Buchstaben recht hätte, die einmal zu berichten wusste, dass Frau Winehouse ihre Haare mit schwarzer Schuhcreme in Form gießen würde. Das ist zwar heftiger Unsinn. Für den Moment aber bin ich fast bereit, es zu glauben.

Mit Kleidung, die einfach unpassend ist. Normalerweise sollte Kleidung, so sie passend ist, die "Problemzonen" kaschieren. Bei Frau Winehouse allerdings stellt es sich so dar, dass diese Dame entweder eine einzige Problemzone auf zwei Beinen ist, oder dass sie einfach einen sensationell schlechten Geschmack hat. Denn das, was man sieht, ähnelt fatal dem, was der Schriftsteller Tom Wolfe ein "High Society Röntgenbild" genannt hat.

Und mit Tattoos und Piercings, die in ihrer bloßen Häufung nicht mehr erotisch, sondern schlicht krankhaft wirken (normalerweise mag ich Tattoos und Piercings, aber so nicht).

Wie gesagt: Dieses Bild hat sich in meinem Bewusstsein eingebrannt. Tief eingebrannt.

Unwillkürlich denke ich an die großen Toten des R'n'R-Business zurück: Janis Joplin (die oft als Vorbild von AW herhalten muss – fairerweise sei gesagt, dass AW die bessere Stimme bei zumindest gleichwertigem Songmaterial hat. Allerdings weiß niemand, wie Janis Joplin mit moderner Studiotechnik klingen würde), Jimi Morrison, Jimi Hendrix, Keith Moon, John Bonham, Bon Scott. Alles große Stars, alles Menschen, die früh, viel zu früh von uns gegangen sind. Allerdings: Keiner von ihnen starb freiwillig oder gar gewollt. In allen Fällen handelte es sich um tragische Unglücksfälle.

Und nicht einmal die Wahrheit, dass "man erntet, was man gesät hat", stimmt so ohne weiteres. Denn ein phasenweise schwerer Alkoholiker wie Joe Cocker lebt immer noch, und der mehr als ein Vierteljahrhundert heroinsüchtige Hermann Brood hat immerhin ein Alter von 55 Jahren erreicht, bevor er sich selbst das Leben nahm. Und dass Künstler wie Iggy Pop, Lou Reed und David Bowie, die ihren eigenen Todestrip in den 70er Jahren exzessiv inszenierten, heute bei bester Gesundheit auf die 70 zugehen, deutet an, dass die Gleichung "Sex & Drugs & Rock'n'Roll" in den meisten Fällen mehr Schein als Sein gewesen ist.

Bei Frau Winehouse freilich liegt der Fall anders. Glaubt man dem seriöseren Teil der Presse sowie dem eigenen laienpsychologischen Verstand, dann hat man es mit einem kranken Menschen zu tun. Ob die Diagnose nun "Drogensucht", "narzisstische Persönlichkeitsstörung", "Essstörung", "Selbstverletzendes Verhalten" oder schlicht "Borderline-Syndrom" heißt, sei einmal in den Interpretationsfreiraum der Fachleute gestellt. Dass die Dame aber krank ist, erkennt selbst ein Laie auf 10 Meter Entfernung.

Und wenn dem so ist, dann unterscheidet sich AW deutlich von Nervensägen wie Paris Hilton oder Dieter Bohlen. Denn diese nerven zwar – und wie! - aber sie sind allen Verlautbarungen gemäß nicht krank.

Und deshalb stellt sich mir die Frage, wieso ein offensichtlich kranker Mensch derart ins Rampenlicht gestellt wird. Wartet man darauf, dass sich AW auf der Bühne den goldenen Schuss setzt? Will man einen kranken Menschen vorführen, in der Hoffnung, dass der Skandal die Quote treibt? Oder sind alle ethischen Maßstäbe abhanden gekommen und es wird einfach die Selbstzerstörung eines Menschen zelebriert und nachher haben alle gelacht?

Wie auch immer: Es reicht! Nichts tut mehr Not als eine ethische Selbstbeschränkung aller Medien, eine derartige Selbstzerstörung nicht mehr zu zeigen, abzubilden, erwähnen zu wollen.

DAS wäre mein "guter Wunsch zum Neuen Jahr".

Heiko Ehrhardt


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