Einigermaßen nüchterne Betrachtung deutscher Befindlichkeit im April 2006 führt zu dem Ergebnis, dass selbst ich, der ich einiges gewöhnt bin, nicht mehr bereit bin, zu glauben, was denn da eigentlich vorgeht.

Ein entschiedener, deutlicher Aufschrei derjenigen Intellektuellen, die die Aufklärung und ihre Werte für konstitutiv für eine lebenswerte Gesellschaft halten und die versuchen, diese Werte auch dem Teil der Welt zu vermitteln, der in mittelalterlich anmutendem Islamismus zu versinken droht?
Fehlanzeige!

Ein entschiedenes Aufbegehren derjenigen, die nach 6 Monaten großer Koalition immer noch ohne Arbeit sind, dafür aber bei Steuern und Sozialabgaben weiter geschröpft werden und die (hoffentlich!) inzwischen zu der Erkenntnis gekommen sind, dass man "Stillstand" im Jahr 2006 wie "Münteferkel" schreibt?
Fehlanzeige!

Ein Umdenken in der Politik, ausgehend von dem erschreckenden Umstand, dass mehr als die Hälfte der Bundesbürger nicht mehr bereit ist, überhaupt noch zu irgendeiner Wahl zu gehen (wohlgemerkt: Für das Recht auf freie Wahlen sind vor knapp 20 Jahren Menschen nicht nur auf die Straße, sondern auch ins Gefängnis gegangen und das nicht Nordkorea oder Afghanistan, sondern in Leipzig, Zwickau, Schwerin oder Gotha)?
Fehlanzeige!

Oder gar ein entschiedenes Auftreten der Elterngeneration, die aktuell mitbekommt, dass die Zukunft ihrer Kinder bildungspolitischen Sparzwängen zum Opfer fällt und somit verzockt wird?
Fehlanzeige!

Stattdessen eine Schlagzeile:

"Klinsi killed King Kahn"

Nein... Ich werde nicht verraten, welche Gazette sich da zielsicher ins Nirvana getextet hat. Die Gebildeten unter den Verächtern werden es eh wissen und die Verächter unter den Gebildeten würden dieses Machwerk eh nie in die Hand nehmen. Dummerweise nur hat dieses wirklich nebensächliche Thema nicht nur die Boulevardpresse, sondern auch den übrigen Blätterwald derart infiziert, dass die tägliche Frage "Wer wird denn nun Nummer 1?" bzw. "Wie verkraftet ein Sensibelchen wie Oliver Kahn diese Degradierung?" zeitweise ähnlich präsent war wie die Bilder und Bulletins vom Sterben Johannes Paul II im vergangenen Frühjahr.

Und weil das so war und weil ich den Eindruck habe, dass das Thema zumindest bis zum Ende der WM diskutiert werden wird, möchte ich meinen ganz persönlichen Senf dazu geben:

Es geht nicht um eine Frage, von deren Antwort für die Zukunft unseres Landes, gar unserer Welt Entscheidendes abhängt. Zwar gibt es Zusammenhänge zwischen dem Wohlergehen des deutschen Fußballs und dem Wohlergehen der deutschen Wirtschaft, zwar wird die WM mit Sicherheit einigen Branchen Wachstum und Wohlstand bescheren (und damit meine ich nicht nur das horizontale Gewerbe...) – aber: Im Endeffekt geht es um die Frage, welcher 36 Jahre alte, international erfahrene und spieltechnisch sicher herausragende Torwart im Tor einer Mannschaft stehen wird, von der ein Titelgewinn zu erwarten wohl völligen Realitätsverlust offenbaren würde.

Es geht auch nicht – wie vor allem aus München immer wieder kolportiert – um Psychoterror, mit dem ein verdienter Sportler in unmenschlicher Weise gequält wird. Speziell die Herren Hoeness und Rummenigge sollten sich eventuell mal überlegen, ob sie überhaupt wissen, was "Psychoterror" ist und wie sich Menschen fühlen, die unter selbigem leiden. Ein wenig Abrüstung der Sprache täte gewiss gut und ein realistischer Blick darauf, dass die Leiden des Herrn Kahn in einem Jahr deutlich besser bezahlt werden als die allermeisten Fans in einem ganzen Leben an Geld zu erwarten haben, sollte das "Drama" um Herrn Kahn vielleicht ein wenig relativieren. Denn anders als ein Arbeiter z.B. bei AEG, der nach 30 oder 40 Dienstjahren innerhalb von 12 Monaten auf Hartz IV durchgereicht wird (für das Geld gibt es nicht mal eine Karte fürs WM-Finale), wird Herrn Kahn seine Untätigkeit mit genau demselben Geld entlohnt, das auch sein Rivale erhält.

Und schließlich geht es bei Kahns rührender Entscheidung, nicht den schmollenden kleinen Olli zu spielen, auch nicht um ein "Opfer", das dieser in entsagungsvoller Weise für Deutschland gebracht hätte. Ich denke, Herr Kahn kann rechnen (sollte er als BWL-Student eigentlich können) und somit wird er wissen, welche Gelder er sich durch Schmollen entgehen liesse.

Der Verdacht freilich liegt nahe, dass es den Verantwortlichen des FC Bayern um etwas ganz anderes geht: Gesetzt den Fall, dass Michael Ballack zu Chelsea wechselt... Welcher Spieler des FC Bayern spielt denn dann überhaupt noch bei dieser WM für Deutschland??? Dass das vermutlich letzte fußballerisches Großereignis auf deutschem Boden im Leben der Herren Rummenigge, Hoeness und Beckenbauer ohne einen Spieler des FC Bayern abläuft – wer hätte das gedacht?

Und das rechtfertigt dann wohl auch verbale Ausrutscher bajuwarischer Großkotze. Zumindest im Verständnis derer, die bis heute nicht verstehen, warum denn das Finale nicht in guter Tradition wieder in München stattfindet.

Aber die können dann ja das Finale von 1974 sehen.
Da war eh alles besser.

Heiko Ehrhardt


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