Fester Bestandteil jedes Religionsgrundkurses ist Nietzsches Geschichte vom "tollen Menschen", der am helllichten Tag mit einer Laterne auf den Marktplatz läuft, den Menschen, die ihn ob diese Tuns kritisch befragen, antwortet, dass er Gott suche, um dann mit der grundstürzenden These zu schließen: "Gott ist tot. Wir haben ihn umgebracht."

Überträgt man diese Parabel auf die Gegenwart, könnte man den Mann vielleicht zu den Schaltstellen der Macht schicken: In die Parteizentralen und den Bundestag, in die Kathedralen der Hochfinanz und die Glaspaläste der medialen Meinungsmacherindustrie und in die Katakomben derjenigen, die gemeinhin für die Produktion von "Sinn" verantwortlich waren. Immer und überall könnte er Utopia suchen. Immer und überall würde die resignierende Erkenntnis lauten, dass diese Dame, die Konstantin Wecker vor einem Vierteljahrhundert noch onanierend im Seidenbette wähnte, ihren letzten Seufzer getan hat. Doch nicht als lustvolles Finale der erwähnten Tätigkeit, sondern als finaler Seufzer eines Menschen, der damit definitiv seinen Geist aufgegeben hat.

In der Tat: Weitgehend unbemerkt hat sie ihren Geist aufgegeben, die Dame Utopia. Irgendwann zwischen 1989 und heute muss es geschehen sein. Obwohl: Länger krank war sie ja schon. Nur bemerkt hat es keiner weil alle, die es hätten bemerken können, nach zwei Kriegen im vergangenen Jahrhundert anderes zu tun hatten als ausgerechnet auf den Gesundheitszustand von Frau Utopia zu achten.
Nun kann man natürlich spitz fragen, ob es nicht besser so ist.

Manch Ohr wird es nach der Fanfare jücken, die Altkanzler Helmut Schmidt in die provokative Formel fassen konnte: "Wer Visionen hat, sollte besser zum Arzt gehen". Und in der Tat scheint es so, als ob es gegenwärtig nicht auf große Entwürfe oder weitreichende Visionen ankommt, sondern darauf, auf die Veränderungen der Welt als Erster zu reagieren.

Aber: Kann das alles sein? Immer nur reagieren? Keine Ziele mehr vorgeben? Keine Werte mehr definieren? Sinn nur noch im Sinne marktkonformen Verhaltens zu definieren?

Die europäische Geistesgeschichte jedenfalls wäre ohne die Dame Utopia nicht vorstellbar gewesen. Von Platos "Politeia" über Augustinus "Gottesstaat", die "Utopia" des Thomas Morus, "Christopolis" von Johann Valentin Andreä bis hin zu Karl Marx, Friedrich Engels, Robert Havemann und Raumschiff Enterprise reicht die Geschichte Utopias. Und immer war es eine Geschichte, die Handlungsoptionen aufzeigte, Energien freisetzte und erneuertes Handeln ermöglichte. Und selbst da, wo die Dame Utopia ihr dunkles Gewand trug und ihr menschenfeindliches Antlitz zeigte - etwa in "Brave New World" oder "1984" - hatte das noch die Bedeutung, vor einer Zukunft zu warnen, die so menschenfeindlich war, dass man alle Kräfte daran setzen sollte, dass sie nicht stattfindet.

Heute freilich...
Heute ist Utopia tot. Will man nicht die Vorstellung, es könne einen ausgeglichenen Haushalt oder gar einen Abbau der Staatsverschuldung geben - irgendwann einmal, natürlich - als aktuelle Verdampfung dessen, was "Utopie" einmal war, ansehen, dann ist und bleibt sie tot.

Wer könnte sie wiederbeleben?

Die Politik? - Eher nicht. Und das ist wohl auch gut so. Denn da wo Utopia und Politik unvermittelt eine Liaison eingingen, kam selten mehr dabei heraus als französische Guillotinen oder russische Gulags.

Die Kirchen? - Deren Visionen scheinen sich in "Die Bibel in gerechter Sprache" (die feministische Variante des Placebos, nur noch von Frauenparkplätzen und Gleichstellungsbeauftragten übertroffen), Strukturkommissionen und Beratungsprozessen zu erschöpfen. Und selbst da, wo es um Visionen gehen müsste, und wo mit aller Kraft um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir morgen leben wollen, gerungen wird, dem Dialog mit dem Islam nämlich, drängt sich der Eindruck auf, dass die stets gleichen Menschen die stets gleichen Statements vortragen, die das Verbindende betonen und das Trennende ausklammern. Dies ist gewiss da, wo es um das friedliche Zusammenleben geht, berechtigt - aber: Wie spannend könnte ein Gespräch werden, dass die durchaus konträren und m.E. im Endeffekt unvereinbaren Gesellschafts- und Hoffnungsvorstellungen von Christen und Moslems thematisiert?

Die Philosophen? - Eigentlich wäre es ihre Aufgabe. Im Land der "Dichter und Denker" fürwahr. Allein: Wer kann auch nur einen Philosophen mit Namen nennen, der in den vergangenen 10 Jahren auf irgendeinen Prozess irgendeinen Einfluss gehabt hat?

Wissenschaft und Technik? - Von Hause die Zukunftswissenschaften schlechthin. Es ist noch gar nicht solange her, dass Fragen der bemannten Raumfahrt eine echte und trotzdem greifbare Utopie zu sein schienen (man vergleiche noch einmal Raumschiff Enterprise). Heute freilich sind die Bedenken derart hoch (der Begriff "Gentechnik", für viele ein Horrorwort, möge genügen), dass aus diesem Bereich bis auf Weiteres nichts zu erwaten ist.

Kunst?
*weia*
Der utopische Gehalt von gecasteten Superstars oder am Fördertropf hängenden Kulturbeamten ist deprimierend niedrig. Und viel mehr scheint es derzeit nicht zu geben. Natürlich: Es gibt mit Julia Zeeh eine zornige junge Autorin, die brillante Essays schreiben kann. Und sie ist gewiss nicht allein auf weiter Flur. Trotzdem bleibt die Erkenntnis aus "Schattendenken", dem bislang letzten, genialen Musiktheater von Goethes Erben, bestehen, dass der Ort eines wahren Künstlers unter den derzeitigen Bedingungen am ehesten im gezielten Rückzug bestehen sollte.

Was also bleibt? - Vielleicht die Erkenntnis, dass derzeit keine gute Zeit für die Dame Utopia ist. Keiner will sie so recht haben und so ist sie mit einem Seufzer verschieden.

Aber immerhin: Es sollen schon andere Tote wieder ins Leben zurückgekehrt sein. Und das nicht nur als Vampir oder Zombie.

Um den großen Fußballphilosophen Franz B. zu zitieren: "Schaun mer mal..."

Heiko Ehrhardt