Wenn es ein Schlaglicht auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation in Deutschland gibt, dann hat es gestern überhell gebrannt: Auf der einen Seite ein kurzer Spaziergang durch die Wetzlarer Altstadt. Im Schaufenster eines Juweliers waren Uhren ausgestellt. Jede einzelne kostete mindestens 35.000 Euro - der Inhalt der drei Schaufenster dürfte mindestens eine Million Euro wert gewesen sein. Da ich vermute, dass sich kein Händler dieser Welt einen derartigen Wert ausschließlich zum Ausstellen leisten kann, nehme ich an, dass es für Uhren in diesem Preissegment auch in einer eher kleinen Stadt wie Wetzlar ausreichend Abnehmer gibt.

Wohlgemerkt: Es geht um Uhren und das in einer Zeit, in der funkgesteuerte Uhren mit absolut präziser Zeitangabe für wenig mehr als 100 Euro erhältlich sind und in der der Fortschritt von GPS und Satellitensysteme 100 % präzise Zeitmessung nicht mehr zu einer Frage des Überlebens macht (natürlich gab es mal eine Zeit, in der Piloten oder Seefahrer auf absolut präzise Zeitmessung angewiesen waren und entsprechend teure Uhren brauchten). Es ist somit nicht übertrieben, derartige Uhren als reinen Luxus zu bezeichnen.

Auf der anderen Seite dann ein Besuch am Nachmittag. Ein netter, freundlicher, offensichtlich gebildeter Mann in Markenkleidung und mit ansprechendem Automobil. Kein "Penner", niemand, der schon mal unter einer Brücke geschlafen hat. Einfach ein Mann, den Arbeitslosigkeit und Hartz IV dazu gebracht hat, dass er in der Mitte des Monats an allen möglichen Stellen um Arbeit und/oder Geld betteln muss. Was ihm ersichtlich schwer fiel und was ihm ersichtlich peinlich war. Derartige Besuche häufen sich - die zwei oder drei üblichen "Penner", nach deren Erscheinen ich fast die Uhr stellen konnte, haben sich enorm vermehrt. Fast jeden Tag laufen Gestrandete unserer Welt hier auf.

Beides nun ist deutsche Wirklichkeit des Jahres 2005: Kaum vorstellbarer Reichtum und nachgerade unsinniger Luxus auf der einen Seite, zunehmende Armut auf der anderen. Spitz gesagt: Millionengehälter für die Ackermanns dieser Welt stehen 1-Euro-Jobs gegenüber. In harten Zahlen ausgedrückt: Der "Armutsbericht" der Bundesregierung zeigt in schonungsloser Offenheit, dass der Anteil der armen Menschen in unserem Land stetig steigt und zugleich einer steigenden Anzahl von Armen eine Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen gegenüber steht.

Hat das eine mit dem anderen zu tun?
Ich denke: Ja.

Fast gebetsmühlenartig bekommen wir zu hören, dass Deutschland nun mal unter zu hohen Löhnen leidet, dass die deutsche Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig ist, dass die Globalisierung nun mal Opfer kostet, dass Arbeitsplätze verlegt werden, wenn die Arbeiter nicht zu harten Einschnitten bereit sind und dass - leider, leider - Politik daran nichts ändern kann.

Irgendwann ist scheinbar ein Raumschiff gelandet, hat einen Virus namens "Globalisierung" ausgespuckt und da Tom Cruise ja nicht an allen Ecken und Enden dieser Welt den "Krieg der Welten" führen kann, sind - wiederum leider, leider - weite Teile der Welt von diesem Virus infiziert. Dass es eine Frage der Logik ist, dass da, wo es Verlierer gibt, auch Gewinner geben muss, wird meist nicht thematisiert und nachgerade schamhaft verschwiegen.

Und so kommt es zu den zwei großen Lügen unserer Zeit:

Lüge Nr.1 heißt: "Es ist nicht genug Arbeit da!"
Der Unsinn dieser Aussage ist offenkundig: Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter, Alten- und Krankenpfleger können wir nämlich gar nicht genug haben. Dass Deutschland auch deshalb mit dem Wort "Pisa" weniger eine schöne Stadt mit schiefem Turm denn das blamable Abschneiden deutscher Schüler im internationalen Vergleich verbindet, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Bildung seit Jahren kaputt gespart wird und dass es in Deutschland Klassenstärken gibt, die den Unterricht für die Lehrer zum Überlebenskampf ausarten lassen. Und das ist nur ein Bereich.

Hat man sich aber grundsätzlich darauf geeinigt, dass es genug Arbeit geben könnte, folgt reflexartig die Lüge Nr.2: "Es ist kein Geld da!"
Wie bitte? - Wer die statistischen Jahrbücher der Bundesrepublik aufmerksam liest, stellt fest, dass das Bruttosozialprodukt Jahr für Jahr steigt. Vielleicht nicht um die Prozentraten, die von Seiten der Bundesregierung her wünschenswert wären, aber steigen tut es schon. Zugleich nimmt die Anzahl der Deutschen kontinuierlich ab. Einen Bezug herzustellen ist ungefähr so einfach wie die Sache mit dem vollen und dem leeren Glas in der Sesamstraße: Wenn das Geld zunimmt und die Menschen gleichzeitig abnehmen, dann ist pro Kopf eigentlich mehr da, oder?

Es wäre daher ein erster, großer Schritt, wenn deutlich gesagt würde, dass es in Deutschland vor allem um ein Verteilungsproblem geht. Deutlich wird dies z.B. dann, wenn ein Betrieb ins Trudeln gerät und die Belegschaft gemeinsam mit Betriebsrat und Firmenleitung pragmatische Lösungen sucht. Dann kommt es häufig zu Absprachen, die deutlich machen, dass deutsche Arbeitnehmer zu Kompromissen und Abstrichen bereit sind und dass es durchaus pragmatische Lösungen gibt. Wenn dann allerdings im Gegenzug die Gewinne der shareholder und die Gehälter des Managements steigen, nenne ich dies schlicht und einfach unsozial. Und genau das passiert immer wieder.

Wie könnte eine Lösung aussehen?
Ich denke, wer eine Uhr für 40.000 Euro tragen oder ein Auto für 100.000 Euro fahren oder auch nur Wein für 50 Euro pro Flasche trinken will, der soll dies tun können. Es ist sinnlos, den "Reichen" den Krieg zu erklären und in Anbetracht weltweit fließender Kapitalströme auch wenig hilfreich. Zwar würde ich mir wünschen, wenn ein erklärter Steuerflüchtling wie Michael Schumacher nicht auch noch als Nationalheld gelten würde - aber das sind zunächst einmal unerhebliche Befindlichkeiten.
Wichtig aber wäre es, Güter zu definieren, die "Luxus" sind und diese über Zusatzsteuern entsprechend zu verteuern (in Ansätzen gibt es das bereits). Sinnvoll wäre es auch, eine Steuer, der sich niemand entziehen kann, nämlich die Mehrwertsteuer, deutlich zu erhöhen und zugleich die Steuer auf Arbeit sowie Lohnnebenkosten drastisch zu senken.

Und zumindest gefragt werden sollte, ob nicht der Umstand, dass einer Staatsverschuldung, die auf die 2-Billionen-Marke zuklettert, fast der dreifache Wert an privatem Kapital- und Immobilienbesitz gegenübersteht, dazu führen muss, dass dieses Geld in ganz anderem Umfang als bisher zur Finanzierung des sozialen Systems in Deutschland herangezogen wird.

Der Worte sind genug gewechselt - lasst uns nun endlich Taten sehen.

Heiko Ehrhardt