Mein persönliches politisches Schlüsselerlebnis hatte ich vor einigen Wochen in der Wetzlarer Stadthalle.

Auf einer Veranstaltung des Mittelhessischen Unternehmerforums zum Thema "Zukunft des Sozialstaas" gab es zunächst ein Referat von Kardinal Lehmann, das eindrucksvoll unter Beweis stellte, dass es jenseits aller Parteien und Verbände in unserem Land noch moralisch-intellektuelle Kapazitäten gibt, die trotz unbestreitbar hoher Bildung in der Lage sind, in einfachen, verständlichen Worten Probleme zu benennen, und gangbare Schritte in die Zukunft aufzuzeigen.

Leider allerdings wurde der gute Eindruck von Lehmanns Referat im Anschluss bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Denn im Anschluss stand eine Podiumsdiskussion auf dem Programm, die Kardinal Lehmann mit einem Arbeitgebervertreter sowie den Vertretern mehrerer staatstragender Parteien zusammen führte. Die Diskussion, die sich entspann, bestand im Wesentlichen in klugen Worten Lehmanns, in ebenfalls klugen und pragmatischen Vorschlägen des Arbeitgebervertreters und in einem peinlichen und kleinlichen Gestreite der versammelten Politprofis.

Am Ende blieb der Eindruck zurück, dass es in unserem Land weder an moralischen und intellektuellen Vorbildern, noch an pragmatischen Vorschlägen, sondern schlicht an politischer Umsetzung mangelt. Oder anders gesagt: Solange die Bekämpfung des jeweiligen politischen Gegners mehr Zeit in Anspruch nimmt und mehr Energien bindet, als der Versuch, die auf allen Ebenen ins Haus stehenden Krisen zu lösen, haben wir in Deutschland ein gewaltiges Problem.

Leider nun ist das nicht nur die isolierte Bestandsaufnahme eines Abends - es ist ein Phänomen, das mit der Geschichte Deutschlands mitgegeben ist. Denn die - damals von den Alliierten mit gutem Grund geförderte - föderale Struktur Deutschlands bedingt, dass immer irgendwo irgendwelche Wahlen sind und daß es immer irgendwo irgendwelche Wähler gibt, die zufriedengestellt werden wollen. Und da Wahlen in Deutschland immer deutlicher als Gelegenheit für eine Ohrfeige und immer seltener als Möglichkeit, Politik zu gestalten, genutzt werden, wird das Zeitfenster für echte, gestaltete Politik immer kleiner.

Dieses Phänomen wird überlagert von der grundsätzlichen Frage nach der Zuordnung von Bund und Ländern - ein Problem, das de facto dazu führt, dass Bundestag und Bundesrat einander seit Jahren unter wechselnden Vorzeichen blockieren können, und verschärft dadurch, dass es bis heute keine adäquate Bannmeile für den Einfluss von Lobbys und keine wirkliche Transparenz in Bezug auf Nebentätigkeiten von Politikern gibt.

Dies alles führt in der Konsequenz zu dem verheerenden Ergebnis, daß in Deutschland spätestens seit den frühen Tagen Helmut Kohls nur noch verwaltet und konsensorientiert in die Kamera gegrinst wird - echte Regierungsarbeit dagegen kann man mit der Lupe suchen. Und sage niemand, dass das so sein muss, weil ein von BILD und Konsorten aufgestacheltes Volk nicht bereit und in der Lage ist, Reformen zu akzeptieren. Erfahrungen in anderen Ländern - etwa Schweden - zeigen, dass Reformen, deren Notwendigkeit vernünftig erklärt wird, allenfalls kurzzeitigen Unmut erregen.

So dumm, wie uns die Politiker haben wollen, sind wir, das Volk, nicht! Und deshalb sollten wir zumindest das Recht, wählen zu gehen und uns einzumischen, klar und konstruktiv nutzen. Und nicht auf jede Veränderung direkt mit einem Denkzettel reagieren wollen.

Kalauer zum Schluss: Was würde passieren, wenn man den Bundestag geschlossen in die Wüste schicken würde?
- Jahrelang nichts. Und dann wird langsam der Sand knapp.

Heiko Ehrhardt