Blick zurück nach vorn: "Ein Gespenst geht um in Europa" - so beginnt das "Kommunistische Manifest", das Karl Marx und Friedrich Engels gemeinsam im Jahr 1848, am Vorabend der Revolution in Deutschland, verfaßten.

Einer von den Texten, die die Welt verändert haben - gewiß.

Zum Bösen - so wird man es heute mehrheitlich zu hören bekommen.
Und die Fakten scheinen gegen Karl und Friedrich zu sprechen, deutlich sogar.

Trotzdem: Auch wenn dies kein Versuch sein soll, irgendwas am "real existierenden (bzw. hingeschiedenen) Sozialismus" schön zu reden... - so ganz vermag ich in den alten Kalauer, wonach der Unterschied zwischen Marx und Murks darin besteht, daß Marx die Theorie ist (und Murks demgemäß die Praxis) nicht einzustimmen.

Denn das, was derzeit umgeht - und nicht nur in Europa sondern nahezu überall auf der Welt - ist weit schlimmer als das von Marx und Engels beschworene Gespenst. Gespenster: Die sind nervig, vielleicht unverschämt, polternd, laut und Schabernacktreibend - aber sie sind für gewöhnlich recht harmlose und freundliche (Ex-)Zeitgenossen.

Anders freilich ist es, wenn statt Gespenstern Untote unterwegs sind (ich meine definitiv nicht die Band !!!). Untote ernähren sich von der Energie von Lebenden, und sie geben nicht eher Ruhe, bis sie einen Menschen vollkommen ausgesaugt, oder aber mittels Holzpflock und silberner Kugel ein grausames Ende gefunden haben.

Der Untote der Gegenwart freilich ist kein bedauernswerter Graf aus Rumänien - nein, er hat andere Namen: Global Player, Globalisierung, shareholder value, lean production, Neoliberalisierung und wohl auch Agenda 2010 sind seine Namen. Er kommt daher mit dem Gestus dessen, dem Geld Macht ist und Macht macht Geld. Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft sind ihm lästig, Verpflichtungen gegenüber Arbeitern oder Staaten kennt er nicht, und sein Zuhause ist überall, am liebsten aber dort, wo die Steuern niedrig und die Zinsen hoch sind.

Um es ganz deutlich zu sagen: Seit Jahren tobt ein erbitterter Kampf um die Zukunft unseres Sozialstaates. Seit Jahren heißt es, daß dieser nicht mehr zu bezahlen sei. Und es geht nicht nur um die Auswüchse und um zu Recht zu kritisierende Überregulierung und überzogenes Anspruchsdenken. Es geht ans Eingemachte (Beispielrechnung aus der Schweiz: Die Sozialkassen wären sofort saniert, wenn alle alten Menschen im Schnitt nur eine einzige Woche früher sterben würden - das schafft Begehrlichkeiten) und nur der grundgesetzgewirkten Blockade der deutschen Politik haben wir es zu verdanken, daß dies nicht schon lange geschah.

Was dabei aber vergessen wird, ist der Umstand, daß die Wirtschaft in Deutschland immer noch wächst (wenn auch langsam), daß gleichzeitig die Einwohnerzahl stetig sinkt so daß rein rechnerisch mehr Geld pro Kopf da sein müßte. De facto aber werden die Armen immer ärmer, der Mittelstand rutscht in die Krise, mittelständische Unternehmen melden zu Hauf Konkurs an und nur einer schmalen Spitze geht es beständig besser. Um einfach mal eine Zahl zu nennen: In den vergangenen 10 Jahren stiegen das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um 37 %, Löhne und Gehälter um 29 % und die Bankzinserträge um annähernd 300 %. Wer also Geld zu verleihen hat, der profitiert in einem Maße, das wirklich kaum noch faßbar ist. Und auf der Gegenseite ist es so, daß Haushalte, Kommunen, Länder und Bund Schuldenlast und Zinsdienst ähnlich aussichtslos ausgeliefert sind wie - sagen wir mal - Burkina Faso oder Sierra Leone. Langsam muß man über einen Schuldenerlaß für unser Land nachdenken, was nun wirklich Perversion des Denkens ist.

Klipp und Klartext geredet: Deutschland mag eine Wirtschaftskrise haben, eine hausgemachte dazu. Die Weltwirtschaft mag ähnlich kriseln und dadurch die deutsche Krise verschärfen.

Schlimmer aber ist das Verteilungsproblem, das die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.

Und deshalb wäre es dringend an der Zeit, wenn das von Marx und Engels beschworene Gespenst ein facelifting erführe, um dann erneut in Europa umzugehen.

Nicht als "real existierender Sozialismus", wohl aber im Geiste dessen, der mal gesagt hat, daß die, die zwei Mäntel haben einen an den geben sollen, der keinen Mantel hat. Auch wenn dieser Satz des Johannes nahezu 2000 Jahre alt ist - nie war er wertvoller als heute.

Heiko Ehrhardt