Zufällig belauschter Gesprächsfetzen im Zug von Berlin nach Kassel: "Du, wenn ich ein paar Jahre jünger wäre und keine Familie hätte, würde ich jetzt Deutschland verlassen." - "Ich auch..."
Gut - es mag zufällig, aus schlechter Laune geboren, defätistisch oder einfach blöd gewesen sein, dies zufällig belauschte Gespräch.
Und doch werde ich den Verdacht nicht los, daß es so dumm nun auch wieder nicht ist. Und mehr noch: Ich würde wohl exakt dasselbe tun, wenn ich einen einigermaßen kompatiblen Beruf und keine Familie hätte.
Wenn die Stimmung in einem Land Indikator für die Qualität von Politik und Wirtschaft desselben ist, dann kann man sich wirklich nur mit Grauen abwenden.

Der eine - wohl größere Teil - singt, pfeift und gröhlt den sumpfdummen "Steuersong" mit und denkt, daß dies bereits Kritik genug sei, der andere Teil versinkt in dumpfer Lethargie, einige wenige Aufrechte prostestieren, daß es "so schlimm doch auch wieder nicht sei und daß sich Vergleiche, etwa mit Brüning und der Endzeit von Weimar verbieten würden" und alle, alle, alle suchen vor allem eines: Ihr jeweiliges Schäfchen ins Trockene zu bringen. Doch in vielen Fällen sind es längst ausgewachsene Schafe, die da vor dem Zugriff geschützt werden, Schafe, die ihrerseits so gefräßig sind, daß sie jedem noch so zaghaft keimenden Pflänzchen Aufschwung zielsicher den Garaus machen.
Hatte ich in der Schule mal gelernt, daß die deutsche Regierungsform die Form einer parlamentarischen Demokratie ist, so werde ich nun Tag für Tag eines Besseren belehrt: de facto ist es so, daß wir längst eine Lobbykratie haben. Was immer eine Lobby fordert, wie absurd oder unsinnig auch immer die Forderungen lauten mögen - immer gibt es irgendwen, der in die Bresche springt und selbst hanebüchenen Unsinn verteidigt. Beispiele gefällig ?

So tummeln sich auf dem deutschen Pharmamarkt etwas mehr als 50.000 verschiedene Medikamente. Längst ist Pharmaberater ein höchst wichtiger und höchst einträchtiger Job geworden (der natürlich auf dem Weg über die Preise letztendlich von allen Beitragszahlern bezahlt wird). Daß ein Land wie Schweden mit 3.500 Medikamenten auskommt (und ein Land wie Frankreich mit etwa 7.000) - daß aber nicht zu erkennen ist, daß es den Menschen in diesen Ländern irgendwie schlechter geht.... Zu interessieren scheint es niemanden.
Überhaupt der Gesundheitssektor: Zwar gibt es eine Ministerin für Verbraucherschutz, allein der dringend notwendige Schutz vor fragwürdigen therapeutischen Angeboten ist just von der Partei dieser Ministerin verhindert worden - es könnten ja die Stammwähler vergrätzt werden. Oder ein anderes Beispiel: Um die Mehrwertsteuer auf Katzen- und Hundefutter wurde eine absurde Auseinandersetzung geführt, bevor dann alles beim Alten blieb. Wenn wir sonst keine Probleme haben. Daß dann aber andererseits die für eine moderne Informationsgesellschaft wohl wichtigsten Investitionen in Schul- und Ausbildungswesen kontinuierlich zurückgefahren werden, führt zu erheblich weniger Protest als die - immer noch faire - Anpassung der Renten an die allgemeine Inflation. Man stelle sich einmal vor, daß Kindergeld und Investitionen in Schulen und Ausbildungsstätten per Gesetz mit einer jährlichen Steigerung versehen würden. Undenkbar ! Die Renten dagegen haben diese Dynamik von Anfang an enthalten. Natürlich auch leisten wir uns milliardenschwere Subventionen unrentabler und überholter Steinzeitindustrien wie Bergbau, Stahl und Landwirtschaft. Natürlich: Ein paar Tausend Bauern, die mit ihren Treckern demonstrieren und Mist vor die zuständigen Ministerien kippen, machen Eindruck. Aber, liebe Leute, die Zeiten, in denen Deutschland ein Agrarland war, sind vorbei. Definitiv. Allmählich könnte man mal im 20.Jahrhundert ankommen. Daß es andererseits keinen vernünftig organisierten Billiglohnsektor gibt, daß es in Deutschland längst lukrativer ist, arbeitslos zu sein als in bestimmten Sparten eine Arbeit zu suchen, daß es womöglich auf Seiten der Industrie gar kein Interesse an Vollbeschäftigung gibt und daß andererseits Subventionen für transnational operierende Konzerne in Deutschland kaum Arbeitsplätze schaffen wogegen der Mittelstand mit Gesetzen und Verordnungen quasi stranguliert wird - all dies kann man wissen und mit etwas gutem Willen ändern.

Und so könnte man alle Felder durchgehen. Immer entsteht der Eindruck, daß eine in Vergreisung begriffene, durch und durch von Lobbies abhängige und vollkommen weltfremd- abgehobene Politikerkaste gerade die Zukunft unseres Landes verspielt. Will oder kann man nun nicht die Option "Auswanderung" erwägen, dann bleibt wohl nur noch die Hoffnung, daß irgendwann der Punkt erreicht ist, wo dieses Land de facto unregierbar ist, und alle, die dann noch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, gezwungen sind, einen modus der Zusammenarbeit zu finden, der sich an den Problemen orientiert, Lösungen sucht und Parteibücher und Lobbies für eine lange Zeit hintenan stellt. Dies könnte bereits nach den nächsten Landtagswahlen geschehen. Oder aber dies Land versinkt endgültig in Lethargie und Hoffnungslosigkeit. Dies freilich mag ich nicht hinnehmen.

Heiko Ehrhardt